Flucht und Vertreibung aus der alten ostdeutschen Heimat

Weihnachten 1944 – Winterwetter – hoher Schnee und strenge Kälte. Die Front verläuft noch weit im Osten; im Westen steht sie an der Reichsgrenze. Verheißungsvoll erschien soeben die Ardennenoffensive – sie brachte aber nicht die Wendung. Wieder und wieder schwerste Bombenangriffe auf Dörfer und Städte – auch ohne jede Kriegsindustrie – gehetzte Menschen in rauchenden Trümmern!

Weihnachten trauliches Fest daheim, alle Stuben sind warm durch Etagenheizung. Unsere beiden Mädchen – Sigrun bald 4 Jahre und Karin 1 ½ Jahre alt – spielen um den Tisch im Eßzimmer und sind voll froher Erwartung. Vom Buffet schimmern Silberschalen, Goldrandteller und -Tassen, mit vollem, schönen Gong schlägt die Uhr. Nebenan im Schlafzimmer ruht unser kleiner Sohn Ingolf, der abends zum ersten Mal in seinem Leben die Lichter des Weihnachtsbaums schauen wird. Wie freue ich mich schon auf seine großen erstaunten Augen! In der Küche – Muttis Bereich – zischt es, und herrliche Düfte ziehen durch die angelehnte Tür. Ich sitze im Herrenzimmer bald im Schreibtischsessel, bald in der Sofaecke – Radio spielt weihnachtliche Musik – und rauche eine Zigarre, denn Mutti riecht den Rauch so gerne. Aus weihnachtlichem Behagen krame ich in den Fächern des Schreibtisches oder im Büroschrank.

1945 ist angebrochen mit viel Schnee und bitterer Kälte. Am 13. Januar begann an der mittleren Weichsel die folgenschwere bolschewistische Großoffensive.

Am 18. Januar feierten wir in einem großen Kinderkreis Sigruns vierten Geburtstag. Der Gabentisch war trotz Kriegszeit reichhaltig. Mutti hatte alle Mühe aufgewendet, diesen Tag recht schön zu gestalten, als hätte sie geahnt, daß es der letzte festliche Tag in unserem schönen Heim in Schwiebus wäre. – Schon längst hatte Doris geträumt, daß wir einmal vor den Russen würden flüchten müssen – da hatte ich nur darüber gelächelt, so unfaßbar erschien mir das. Mitte Januar setzte große Kälte ein, und gegen Monatsende häuften sich die Schneefälle.

Noch am 20. Januar fanden in vielen Dörfern politische Versammlungen statt. Kreisleiter Hauck sprach im überfüllten Saal des „Märkischen Hofes“ in Schwiebus und rief noch zur „Spinnstoffsammlung“ auf. Es war die letzte Versammlung! – Schon zwei Tage später treffen die ersten Flüchtlingstransporte aus dem Warthegau ein – verstärken sich von Tag zu Tag und werden bald zur endlosen Kolonne. Die Gliederungen der Partei und viele freiwillige Helfer werden zur Betreuung eingesetzt, leisten Tag und Nacht Übermenschliches. Warme Massenquartiere sind im Märkischen Hof, in der Knaben-Volksschule und in der Katholischen Schule eingerichtet. Die Bahnverbindung ist zunächst unterbrochen. Es ist selbstverständlich, daß ich mich – trotz meiner Verwundung – in die Betreuungsarbeit einschalte.

Es ist bitter kalt; schneidend pfeift der Ostwind. Unbeschreibliches Elend kommt aus dem Grau des Schneesturmes, auf teils offenen Leiterwagen mit abgetriebenen Gäulen gezogen. Viele Kleinkinder sterben am Wege, sie werden seitwärts der Straße in den hohen Schnee gelegt; andere sterben in den Unterkünften. Frauen entbinden auf offenen Leiterwagen in grimmiger Kälte. Menschen und Gespanne sind am Zusammenbrechen. Das Grauen vor den Bolschewiken treibt und peitscht sie vorwärts. Als dann die Bahn wieder fährt, lassen sehr viele ihre Wagen, Pferde und Hausrat einfach auf der Straße stehen und liegen und setzen die Reise mit den Zügen fort. Alle Gesichter sind hart und verschlossen, wenig wird gesprochen.

Ich bemühe mich hauptsächlich um alte Leute und Schwerbeschädigte oder stelle Reisebescheinigungen für Frauen und Kinder aus. Es schneit Tag und Nacht, dann kommt fürchterliches Glatteis. Berliner Omnibusse bringen Lebensmittel, Brot und Wurst und nehmen Flüchtlinge dann westwärts mit. Mehr und mehr kommen führerlose Soldatenhaufen, PKWs mit Schreibstuben und anderen Etappenelementen, Offiziere. Die Gesichter der Schwiebusser werden bedenklicher, doch noch glaubt niemand daran, daß der Russe auch hierherkommt. Gerüchte melden, der Gegner werde bei Posen zurückgeschlagen.

Jeden Morgen klingelt die Nachbarschaft auch bei uns an, „ob wir noch da seien“. – In unserer kleinen Wohnung haben wir auch eine Flüchtlingsfrau Plato mit drei Kindern und Mädchen einquartiert. In der Not rückt man zusammen. Sie glauben, daß sie bald zurückkönnen.

Doch näher und näher rückt die Front. Viele Schwiebusser haben – teils heimlich – bereits die Stadt verlassen. Besorgte Gesichter überall; es würgt jedem in der Kehle. Ich muß Frau Plato dringend zur Weiterreise raten. Frau Plato will uns einen Eimer Schmalz zurücklassen. Auf mein Zureden nimmt sie noch die Hälfte mit (es wird ihr später gut geholfen haben), denn sie ist ja im Warthegau ein gutes Leben gewöhnt gewesen. Alle Trecks werden in vorbereitete, vorbestimmte Aufnahmekreise westlich weitergeleitet.

Freitag, den 26. Januar ergibt sich für uns plötzlich die Möglichkeit, mit einem LKW vom Fuhrgeschäft Bernhard Wolf, der auch für das Schwiebusser Lazarett fährt, meine Familie mit fortzuschicken. Eiligst wird gepackt, Betten, Wäsche. Das Innere des LKW wird mit Teppichen gegen die Kälte abgeschirmt. Nachbarfrau Reeck mit Kindern fährt auch mit. Es sind insgesamt 20 Frauen und Kinder beisammen, qualvolle Enge, aber gut bei der Kälte.

Die Abfahrt ist auf 18 Uhr abends festgesetzt, doch Stunde um Stunde vergeht noch mit Reparaturen. Endlich, gegen 23 Uhr fahren die Wagen ab. Kurt Reeck und ich sehen mit einer gewissen Erleichterung im wiedereinsetzenden Schneetreiben die Wagen um die Ecke entschwinden, und wir gehen nachdenklich zurück in unsere leeren Wohnungen. Wir wußten nicht, daß die Wagen schon kurz hinter der Stadt im Schnee festlagen. Ein Anhänger blieb liegen, der LKW mußte wegen Reparatur nochmals zur Stadt zurück. Frauen und Kinder hockten die ganze Nacht ungewiß im Wagen. Erst gegen 5 Uhr morgens setzten sie die Fahrt fort. Doris hatte auch ihr Fahrrad und den Kinderwagen mitgenommen Durch die Lazarettverwaltung wurde ich Sonntag früh verständigt, daß die Wagen noch immer nicht an ihrem Bestimmungsort angekommen sind. Welche Sorge bei dieser Kälte!

Endlich! Sonntag nachmittag kommt Meldung von der Ankunft: Meine liebe Frau mit den beiden Mädchen und dem fünf Monate alten Jungen sind in Altdöbern, Kreis Calau, bei Schuhmacher Kuhleig in zwei kleinen Zimmern untergekommen.

Schon Sonnabend, den 27. Januar lassen die Flüchtlingstrecks nach und hören am Sonntag ganz auf. Wie froh bin ich, Frau und Kinder weit weg in Sicherheit zu wissen.

Einige Soldatenhaufen kommen noch, werden angehalten, gesammelt, laufen wieder auseinander, viele Soldaten umgehen die Stadt. Wo bleibt die Front? Da müssen doch noch kämpfende Einheiten sein, so glaubt man als alter Frontsoldat. Schreckliche Ungewißheit, dumpfer Druck auf der Brust.

Aber in diesen Tagen höchster Not zeigen sich auch die „ganzen Kerle“. Es bewähren sich so manche, die man früher für Angeber hielt, und immer an der Spitze ohne Schlaf und Nahrung, Ruhe ausstrahlend, wie unser Anton Hauck. Sonntag nachmittag wird der Volkssturm aufgelöst, noch ehe er in Aktion tritt. Es sind keine Waffen da.

Ruhelos streife ich durch die leeren Straßen, besuche Freunde und Bekannte, Kiefers, Donaths, Ortmanns, und rate dringend zur Abreise. Mein Freund Marziniak steht irgendwo an der Front, seine Frau weint, als ich am frühen Abend auch ihr zur Flucht rate. „Ach, meine Kinder liegen schon im warmen Bett und schlafen, und draußen istʼs so kalt – wir bleiben hier.“ Was wird aus ihr geworden sein?

An diesem Sonntag nachmittag schossen die Russen schon aus Bomst in das nur 8 km von uns entfernte Schmarse. Wir hören die Einschläge. Dunkel und menschenleer sind die Straßen. Im hohen Schnee erstickt jeder Laut – leise fallen die Flocken.

In der kalten Wohnung packe ich etwas ein und wieder aus – ich kann ja nicht viel tragen. Um 20 Uhr verlasse ich die Wohnung. Mir ist, als müsse ich bald wiederkommen. Ortmanns Mädchen fährt mir das Gepäck auf unserem Rodelschlitten zur Bahn. Alles ist finster, aber ein dunkler Zug steht da – um 23 Uhr ist er voll beladen mit dunklen, stillen Gestalten, langsam fährt er ab. Im Abteil neben mir sitzen Kranke aus dem Krankenhaus; sie kommen gerade aus dem Bett. Endlos langsam, mit vielen Halten, ziehen wir durch die Winternacht. 12 Stunden bis Frankfurt/Oder, – sonst eine Stunde mit dem D-Zug.

Montag mittag waren die Russen bereits 20 km südlich von Schwiebus in Züllichau; in Schwiebus wußte kein Mensch davon. Montag abend, 29. Januar fuhr der letzte Flüchtlingszug von Schwiebus weg. Autorität und Energie von Kreisleiter Hauck verhinderten eine Panik – wie ich später erfuhr – als er einen weit draußen haltenden Zug bestimmte, noch in den Bahnhof einzufahren und die Flüchtenden aufzunehmen. In der Nacht zum Dienstag werden von Wehrmachtsangehörigen die Betriebe Lufthansa, Telefunken und die Gummifabrik in die Luft gesprengt.

Dienstag, den 30. Januar 1945 morgens, ziehen die Russen in Schwiebus ein. Die Hölle bricht los … mit Plünderung, Mord und Vergewaltigung. In diesen Schreckenstagen gehen, so berichten später Überlebende, ganze Familien aus grauenhaftem Erleben in den Tod. Erschütternd – als eines von vielen – das Schicksal der Familie Pfänder (Konditorei und Tanzlokal). Das Ehepaar mit den beiden Töchtern entrinnt in den tiefverschneiten Wald. Auf Bitten der Frau legt ihr dort der Mann die Schlinge um den Hals und erhängt sich dann anschließend selbst. Die beiden Töchter verlieren den Mut und sind entkommen.

Im nächsten Dorf werden Flüchtlinge aus Schwiebus von russischen Panzern zusammengeschossen. Rektor Reeck rettet sich dabei mit Mühe ins Schilf des vereisten Wilkauer Sees. Zurückbleibende erleben grauenvolle Tage. Die beliebte Klavierlehrerin Otto sucht später den Freitod im Mühlteich. Meine langjährige Wirtin, Frau Liesfeld, schon lange eine verhutzelte alte Frau, kommt noch bis Frankfurt, stirbt dort einsam, entkräftet vor Hunger, auf einer Promenadenbank. Die – teils recht hübschen – jungen Nonnen im St.-Josefs-Krankenhaus Schwiebus, wo auch ich Genesung fand, werden viehisch vergewaltigt, teils erschlagen. Ihre Leichen sollen lange unbestattet im Hof gelegen haben.

Die Bunkerlinie zwischen Oder und Warthe, an der Tausende jahrelang gearbeitet haben, samt der vorbereiteten „Rundumstellungen“ – der sog. „Ostwall“ – werden kampflos übergeben, zumal Überschwemmungen wegen Kälte nicht möglich sind. Jeder fragt entsetzt: Was ist mit unserer Wehrmacht los? Nur zurück, zurück! Im Büro in Frankfurt herrscht schon tolles Durcheinander, kein Posteingang mehr. Ein Sachbearbeiter (Franz Schwerdtner) ist als Sanitäter mit dem Frankfurter Volkssturm in die Bunkerlinie abgerückt. Alle sind verschollen.

Ich selbst werde – mit nur einem Bein – zum „Volkssturm“ beordert, kann aber nur Bürodienst tun; da höre ich alle sorgenvollen Meldungen unmittelbar. Mit der Bewaffnung des 5. Bataillons sieht es anfangs recht schlecht aus. In der Zeugmeisterstraße werden acht Baracken des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete entdeckt. Da war alles Erdenkliche gehortet. So werden erst einmal Strohsäcke, Decken, Piken, Äxte, Spaten, Textilien, Stiefel, Lederfett usw. ausgegeben. Auch Panzerfäuste und Gewehre französischer, russischer und italienischer Herkunft treffen ein. Schwer ist es, dazu die notwendige Munition zu erhalten.

An der Oder kommt dann der Russe erst einmal zum Stehen. Eines Abends trifft auch – erschöpft und völlig mittellos – Anton Hauck im zweirädrigen Einspänner ein, genauso kaputt wie sein Pferd. Als letzter hat er Schwiebus verlassen und konnte von seinem Gut Merzdorf nicht einmal das Notwendigste mitnehmen. Eine Wehrmachtsstreife hatte Anweisung, ihn nicht mehr in die Wohnung zu lassen. Den Grund erfuhr er später: Offiziere hatten schon sein ganzes Silber geplündert – eigene Leute! Frau Hauck war mit einem Flüchtlingstreck den Russen in die Hände gefallen. – Kurz danach kommt auch Kurt Reeck, der Schlimmes durchgemacht hat, sich über die Oder durchschlagen konnte. Er wird sofort zum „Volkssturm“ eingezogen.

Nach hohem Schnee hat plötzliches Tauwetter eingesetzt. Eines Tages stürze ich bei Glatteis. Vorübergehende heben mich von der Straße auf. Ich habe mir einen Bluterguß zugezogen, der mich beim Gehen behindert. Eines Abends, als ich schon im Bett liege, kommt meine Wirtin mit Tochter und einem Arbeitsdienstmann zu mir ins Zimmer – sie wollen alle weiter nach Westen. Triumphierend zeigt mir der Arbeitsdienstmann einen ganzen Packen Fahrbefehle für seinen LKW – Unterschriften und Stempel gefälscht. Nun kann er westwärts fahren, wohin er will. Mir steigt der Ekel hoch, und ich muß mich beherrschen. Frau Klich mit Tochter fahren dann später ab. So wir auch diese Wohnung in den folgenden Tagen kalt und leer. Eine ältere Hausbewohnerin, einen Stock tiefer, macht mir mitunter einen warmen Kaffee.

Es ist Sonntag, der 4. Februar. Sind erst gut zwei Wochen seit Sigruns Geburtstag? Welches Erleben seither! Es ist ein grauer Tag, und die meisten Frankfurter sind fort. Leer ist die einst so lebhafte Stadt, jetzt Totenstille. Die Russen halten bereits das andere Oderufer besetzt, die Brücken sind gesprengt. Noch vor zwei Tagen fuhren deutsche Panzer, die in den Anlagen standen, unter Führung eines jüngeren Offiziers einen Angriff in der Reppener Gegend. Keiner kam zurück. Nun schlagen einzelne Granaten in die Stadt. Von meinem hohen Stubenfenster sehe ich unsere Stuka-Angriffe auf feindliche Oderstellungen.

Sonntag nachmittag treffe ich mich nochmals mit den letzten zurückgebliebenen Mitarbeitern im Büro. Leere, kalte Öde auch hier. Als letzter verlasse ich dann die Dienststelle, nachdem alle meine Leute fort sind. Vielen Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen konnten wir von diesen Räumen aus helfen und – anders als nach der Ausbombung im Hansaviertel in Berlin – werden wir uns alle kaum je wiedersehen.

Im tiefen Dunkel schleiche ich an den Häuserwänden entlang zum Bahnhof. Noch bin ich 100 m ab, da schlägt dicht neben dem Bahnhof eine schwere Granate ein. Überall gibt es schon Verwundete. Heimlich fahren noch Züge. Langsam, in dumpfen Warten, vergehen die Nachtstunden, bis endlich um 5 Uhr morgens der Zug abfährt – südwärts. Der Cottbusser Bahnhof ist nur noch ein Trümmerhaufen. Nachmittags bin ich in Altdöbern/Lausitz wieder mit allen meinen Lieben vereint.

Wir bewohnen bei Schuhmacher Kuhleig im ersten Stock zwei kleine Zimmer. Kuhleig spielt sich als weiser Philosoph auf, in Wahrheit ist er nur ein übler Schwätzer, der sich nach dem Winde dreht. Auf dem gleichen Flur wohnt die Wäscherin Illmert mit ihren beiden Töchtern. Bei Kuhleig arbeiten zwei Polen, denen es gut geht. Im Laden herrscht ein beabsichtigtes tolles Durcheinander; darunter hat der Schlaue ein wertvolles Lederlager versteckt. Es kommt ihm später gut zustatten, als er Russenstiefel besohlt. Des Meisters Steckenpferd ist seine Rhodeländer Kükenzucht. Unseren Ingolf liebt er sehr. Seine beiden Söhne stehen im Feld, einer ist vermißt. Frau Kuhleig ist einfältig, gutmütig. Später ist sie nächtelang damit beschäftigt, in Scheune, Feld und Garten Vorräte und das „Lager für alle Fälle“ einzugraben. Auch läuft sie zur Kartenlegerin und läßt sich aus Kaffeesud weissagen, daß im Mai der Krieg zu Ende sei.

Als die Front später näherrückt, werden Kuhleigs bösartiger. Illmerts stehlen uns nach dem Ende einen großen Teil unterer Wäsche, Anzüge und Betten. Die Töchter schlafen erst mit dem letzten Wehrmachtstroß und wenig später mit den Russen.

Aber noch verleben wird ruhige Tage. Es gibt Laufereien zum Wirtschaftsamt und kleine Spaziergänge in die nähere schöne Umgebung, besonders in den Schloßpark, wo die Berliner schwedische Gesandtschaft untergebracht ist.

Sehr oft ist Tag und Nacht Alarm, der Nachthimmel in Richtung Berlin gerötet. Eines Nachts sehe ich mit Kuhleig lange zum Dachfenster hinaus nach Süden, wo es unaufhörlich auf blitzt – etwa 60 – 80 km entfernt. Dort vollzog sich ein Drama: der Untergang von Dresden – einer unbewaffneten Kunststadt, mit Flüchtlingen vollgestopft.

Niemals wird sich feststellen lassen, wieviel Hunderttausende hier in einer Nacht qualvoll ihr Leben lassen mußten. Ewige Schande für Engländer und Amerikaner!!

In den ersten Wochen bin ich öfter unterwegs. In meiner Dienst-Ausweichstelle Altdöbern gibt es nicht mehr viel Arbeit. Der alte Bosnack leitet das Büro mit jungen Frauen und Mädchen. Ich fahre mal nach Cottbus, Senftenberg, Finsterwalde, teils um alte Freunde zu besuchen, teils um mit Bernhard Wolf wegen weiterer Flucht Verbindung zu halten, falls es notwendig für die Familie wird.

Die Front ist an der Oder-Neiße-Grenze zum Stehen gekommen. Gerüchte über Gegenangriff und Einsatz neuer geheimer, aber ausschlaggebender Waffen halten sich hartnäckig. Eine gute Prophezeiung von Sven Green macht die Runde. Trotz Leid und Sorgen glaubt noch jeder an einen guten Ausgang.

Zu meinem 40. Geburtstag hat Doris mir eine gute Torte gebacken. Als wir gerade am Frühstückstisch sitzen, schneien noch zwei Berliner Mitarbeiterinnen, Holtsch und Sprockhoff, herein und werden eingeladen. Bruder Hans ist mit der NSV-Verpflegungsstelle in Forst tätig.

Unsere alte Heimaltstadt Sorau mußte nach tagelangen Kämpfen aufgegeben werden. Wie mag es jetzt dort nach den zwei amerikanischen Bombenangriffen aussehen?

Langsam wird es wieder Frühling. Da kommt im März der furchtbare Bombenangriff auf ein Wohnviertel in Cottbus. Kurz danach erreicht mich ein Anruf: Ich möchte meinen Vater und die Familie meines Bruders in Cottbus abholen lassen. Bald sind dann unsere Lieben alle da – mit Kisten und Koffern – und es gelingt mir, sie in der Kriegsopfer-Siedlung bei Frau Zilm in zwei kleinen Zimmern unterzubringen. Wie durch ein Wunder sind sie in Cottbus inmitten brennender, einstürzender Häuser in einem „gut weggekommenen Haus“ mit dem Schrecken und mit dem Leben davongekommen. Nun halten wird zusammen!

Vorher war ich schon einige Male mit Bahn, Lastwagen und Autos unterwegs gewesen, um wegen der Frontlinie in der Potsdamer/Belziger Gegend evtl. für meine Familie ein anderes Quartier vorzubereiten. Doch Schwägerin Ella sagte immer wieder: Ihr werdet uns doch nicht allein lassen? Da gebe ich alle Pläne auf und ließ später auch Bernhard Wolf mit LKW allein weiterfahren. Gewiß wäre uns Schweres erspart geblieben, von dem wir noch nichts wußten, und wir hätten auch unsere Sachen behalten. Aber das war alles so bestimmt vom Schicksal.

Am 20. März besucht uns Bruder Hans in Altdöbern. Es sind letzte schöne Stunden, wo die ganze Familie beisammen ist. Wir fotografieren nochmal – leider geht der Film später verloren.

Viel bin ich in diesen Schicksalswochen mit meinem geliebten, im 74. Lebensjahr stehenden Vater zusammen auf Spaziergängen durch Wald und Feld. Wir haben uns ja in den Kriegsjahren selten genug gesehen. Es stehen ihm immer die Tränen in den Augen, wenn er von seiner lieben Sorauer Heimat spricht, von seinem Lebenswerk mit den Häusern, und wie er sich alles für mich und Bruder Hans gedacht hat, und daß ich einmal ein großes schuldenfreies Haus bekomme, zumal ich als Schwerkriegsbeschädigter immer erwerbsbeschränkt sein werde, und daß er alles schriftlich in seiner Schreibmappe festgelegt habe. Von Vater bekam ich noch verschiedene „mein Haus“ betreffende Unterlagen. Und immer wieder erzählte er mir – während sich mir das Herz verkrampft – wie unsagbar schwer es für ihn war, in seinem Alter noch fortzumüssen. Schwer ringt es sich ihm aus der Brust, wie er, nur mit einem kleinen Koffer in der Hand, mutterseelenallein hinten zum Gartentor hinaus quer über die Felder – ohne sich noch einmal umzusehen -zur Triebeler Chaussee lief. Dort ist er auf sein Bitten von einem Flüchtlingswagen mitgenommen worden.

In der Enge des Altdöberner Notquartiers leidet er – ohne rechte Beschäftigung; der Kinderlärm wird ihm oft zu viel. Manches wollen die Kinder besser wissen.

Das Hauptregiment führt meines Bruders Schwiegermutter. Er leidet sehr darunter; ich fühle mit ihm und suche ausgleichend zu wirken.

Ostern 1945. Am l. und 2. April – das Wetter ist aprilmäßig – gehen wir im Schloßpark spazieren, die Kinder suchen Ostereier, gemeinsames Mittagessen bei Pachtmann.

Dann geht diese letzte – und trotz allen Kummers auch schöne Zeit der Gemeinsamkeit – schnell zu Ende. Der Kanonendonner wird heftiger und kommt schnell näher. Wehrmachtsteile der auf unserer Seite kämpfenden Wlassow-Armee ziehen nach Süden. Wehrmachtsteil, Panzertruppen ohne Panzer ziehen ab. Dann langsam und wieder schneller Flüchtlingstrecks von der Neiße her. Überall vergraben die Einwohner Lebensmittel und andere Sachen, auch wir machen dabei mit. An der Wand des Holzschuppens bei Frau Zilm hat Vater einen tiefen Graben geschaufelt, viele Koffer und Kisten darin vergraben, wieder zugeschüttet und Holz darauf gestapelt, daneben noch eine weitere Grube für Silber usw. Es ist der 18. April, und die Nacht bricht herein, ehe wir fertig sind.

Dann begleitet mich Vater von der Siedlung außerhalb des Dorfes noch bis zu Kuhleigs Haus. Im Schimmer der Sterne geben wir uns die Hand: „Bis morgen früh!“ Ahnungslos – kein Gott und kein Mensch sagt mir in diesem Augenblick, daß ich mich soeben zum letzten Mal im Leben von meinem geliebten Vater verabschiedet habe!

Doris und ich können keinen Schlaf finden, sind danach aber zu schlaff, um aufzustehen. Die ganze Nacht hindurch klirren die Fensterscheiben von den draußen vorüberholpernden Flüchtlingswagen.

Ein sonniger Morgen bricht an. Im Rathaus will ich mir einen Bezugsschein abholen, aber aller Geschäftsbetrieb ruht; es ist „höchste Alarmstufe“ befohlen. Der Volkssturm tritt an, stündlich werden die Russen erwartet; bei Calau soll schon gekämpft werden. Fieberhaft packen wir das Allernotwendigste. Doris eilt zur Siedlung. Dort hat man schon gepackt, die Verwandten wollen ohne Warten gleich fort. Vater läßt mir noch durch Doris sagen: Falls wir uns nicht wieder sehen, sage Jörg: „Ich habe euch sehr liebgehabt.“

Dann stehen wir an der Marktecke und betteln: „Nehmt uns doch mit.“ Doch jeder der vielen Bekannten und „Freunde“ denkt nur an sich, macht Ausflüchte oder eilt stumm vorüber. So stehen wird ganz allein mit unseren drei kleinen Kindern. Dann wollen wir hinüber zur Siedlung, vielleicht ist Vater noch da. Wir müssen uns beeilen, sonst schließt der Volkssturm die Straßensperren. Den Kinderwagen schiebe ich voraus, Doris eilt mit den Mädchen hinterher.

Russische Tiefflieger schwirren heran und schießen mit MGs. Wir bleiben in notdürftiger Deckung unter Büschen liegen, längs der Straße. Als ich dann noch einen Koffer mit Sachen holen will, ist er verschwunden. – Illmerts? – Alles ist in den Wald geflüchtet. So ziehen auch wir in den Wald neben der Siedlung. Etwa 50 m vom Waldrand, im Tannendickicht, wissen wir ein überdecktes Erdloch mit zwei Eingängen. Es ist leer, und wir schieben uns hinein. Dann gehe ich tiefer in den Wald; überall versteckte Flüchtlingsgruppen, doch keine Spur von unseren Verwandten.

Inzwischen nimmt das Schießen und Motorgerassel zu – die Russen sind da! Fremde Kommandos, dann Schreien und Brüllen aus der nahen Siedlung. Später, am Nachmittag sehe ich hinter der verhängten Zeltbahn ausschauend die ersten Russen im Wald, andere ziehen in Schützenreihe dicht an unserem Versteck vorüber, ohne uns zu bemerken. Lautlos und ängstlich hocken wir in unserem Loch, hören heftiges Schießen, da sich der Volkssturm wild verteidigt. Russische Panzer brechen zwischen uns und dem Dorf hindurch. Kugeln pfeifen durch die Büsche, eine schaurige Nacht bricht an mit Schießen und Brüllen. Wir hören Türen und Fenster splittern und plündernde Russen grölen. Eng schmiegen sich die Kinder an uns. Schließlich schlafen die Mädchen, in alle Decken gehüllt, am Boden ein. Der kleine Ingolf im Wagen schreit vor Hunger. Wir versuchen, ihn zu beruhigen. Wir haben ein Milchfläschchen dabei, aber es ist kalt. Abwechselnd stecken wir das Fläschchen unters Hemd an unsere Herzen, um es etwas zu erwärmen. Es gelingt nicht. Endlich schläft der Kleine vor Ermattung ein.

Wegen des Schreiens hatten wir schon mit dem Erscheinen russischer Soldaten gerechnet. Nun erschauern wir alle vor Kälte und Aufregung. Andere Flüchtlinge im Wald haben schon das Kinderweinen gehört, jedoch nicht gewußt, woher es kommt. Wir sind total erschöpft, mutlos, müde, müde. Noch habe ich meinen Revolver. Er war noch vollgeladen. Ernsthaft erwägen Doris und ich, ob wir alle aus dem Leben gehen sollen. Aber keiner bekäme es fertig, die im Scheine eines Lichtstümpchens rosig und ruhig schlafenden Kinder zu erschießen. Erschütterndste Stunde geschundenen Menschentums! Dann lasse ich den Revolver hinter die Wände der stützenden Bretter gleiten.

Endlich, endlich graut der Morgen. Da hält es Doris nicht mehr im Erdloch aus. Komme, was da wolle, der Junge muß wieder ein warmes Fläschchen haben. Es ist der 20. April 1945. Bang und schlaff harre ich und warte. Bald ist Doris zurück und ruft mich. Als ich steif aus dem Erdloch klettere, hält mir ein Russe schon das Gewehr auf die Brust, tastet mich ab und weist zur Siedlung. Überall werden geflüchtete Einwohner aus dem Wald zurückgetrieben.

Im ausgeplünderten Haus von Kuhleig essen wir mit dieser zurückgekehrten Familie etwas und versuchen, uns gegenseitig Mut zuzusprechen. Die Schießerei hat aufgehört, nun ist fast sonntägliche Stille. Aber alle Häuser sind aufgebrochen, Kisten und Kasten ausgeräumt, Inhalt auf dem Boden verstreut und beschmutzt. Ein kleines Russenkommando liegt zwei Häuser weiter. Bald kommen fortgesetzt einzelne Soldaten, angeblich, um uns immer wieder nach Waffen zu durchsuchen, in Wahrheit aber, um uns unsere Wertsachen abzunehmen. Einer zerreißt dabei meine vorhandenen Geldscheine und sagt: Nur noch Rubel gelten. Die zerrissenen Scheine sammle ich sorgfältig; sie werden mir später voll eingelöst. Mein silbernes Zigaretten-Etui verschwindet. Doch während der Russe seinen Raub noch betrachtet, habe ich schnell meine Uhr in die erhobene geschlossene Hand genommen.

Als wir kurz wieder alleine sind, verstecke ich unsere Uhren und Trauringe im Futter meiner Holzprothese, wo sie auch glücklich allen weiteren Plünderungen der folgenden Monate entgehen. Fast alle fünf Minuten tritt ein jüngerer Russe ins Zimmer und mustert frech die Frauen und Mädchen. Doris nimmt jedes Mal Ingolf oder Karin oder auch beide auf den Arm. Sie gefällt ihm.

Bald werden Schreckensszenen aus dem Dorf bekannt. Nebenan, bei Frau Zilm weint eine Mutter um ihr zwölfjähriges Töchterchen. Endlich nach Stunden wird sie gefunden – gänzlich verstört – sie wurde mehrfach vergewaltigt. Die fünfundsechzigjährige Frau Zilm wurde mehrfach arg bedrängt, konnte sich aber immer den Gewalttätigen entziehen. Gegenüber bei Meissners, wo zwei hübsche Mädchen sind, ist der „Besuch“ besonders rege. Das bedeutet, daß ihr Vater verhaftet und abgeholt wird, wenn sie sich nicht freiwillig geben. Die angsterfüllten, weinenden Mädchen irren verzweifelt durch Häuser und Gärten. Doris und die anderen Frauen werden immer ängstlicher, je mehr Schreckensnachrichten über die massenhaften Vergewaltigungen, Plünderungen und Mißhandlungen bekannt werden. Die Russen haben dabei immer die Hand an der Pistole, und das ist kein Spaß.

Immer wieder werden heimliche Pläne gemacht – niemand weiß, woher die Kunde kommt – aber Groß-Räschen, 10 km seitwärts, soll noch feindfrei sein. Da brummen Motoren, Bombeneinschläge, deutsche Tiefflieger sind da. Unüberlegt stürzt Doris freudig ans Fenster und winkt den im Tiefflug Kreisenden zu. Die Russen sind wie fortgeblasen – irgendwo alle in Deckung oder in Kellern.

Da drängt Doris und reißt mich und die anderen mit. Auch Kuhleigs und Meissners packen eiligst das Notwendigste, und dann ziehen wir gebückt hinten zum Garten hinaus, über Wiese und Graben mit unserem Kinderwagen, immer ängstlich zurück spähend, ob die Russen schießen oder uns zurückholen werden.

Wir sind etwa 15 Menschen und können leicht bemerkt werden. Doch ungehindert erreichen wir den Wald, kommen an einem einsamen Gehöft vorbei, verschnaufen etwas und eilen auf sandigen Waldwegen weiter bergauf und bergab, sichern erst an Kreuzungen und sind dann auf einer festen Landstraße. Bald stoßen wir auf eine Straßensperre, an der Volkssturmmänner mit umgehängten Karabinern Wache halten. Allein auf verlorenem Posten. Wir bedeuten ihnen hastig die Zwecklosigkeit ihres Stehens: Gehen Sie schnell nach Hause, Waffen weg, sonst erschießen euch die Russen. Groß-Räschen ist tatsächlich noch feindfrei. Der Gegner ist nur bei Altdöbern zur Autobahn Berlin-Dresden durchgebrochen.

Es ist Abend geworden, als wir in den Ort kommen. Ein Kinderwagenrad ist defekt. Nach vielen Bitten wird es an einer Tankstelle repariert. Kuhleigs suchen Bekannte auf. Als wir noch unschlüssig verharren, kommt eine Pferdekolonne von einem versprengten Troß der Wehrmacht vorbei. Weinend und bettelnd läuft Doris von einem Wagen zum anderen. Schließlich erreicht sie es, daß wir mitgenommen werden. Kinderwagen, Fahrrad, Koffer, Kinder und wir werden auf verschiedenen Wagen untergebracht, und weiter geht die Fahrt auf holperigen Seitenstraßen, mit müden, abgetriebenen Gäulen in den Abend hinein. Auch Meissners kommen mit. An den Straßen, vor den Häusern, stehen ernste Menschen und sehen uns schweigend nach. Wir kennen diese Gefühle!

In tiefer Nacht erreichen wir das Dorf Saalhausen, wo uns Quartiermacher erwarten. Die Hälfte der Einwohner ist schon geflohen. Um uns kümmert sich keiner. Die Soldaten sind zu müde. Bei der Wache auf einer Scheunentenne, auf dürftigem Stroh, können wir uns nach ereignisreichem Tag endlich lang hinstrecken. Mein amputiertes Bein schmerzt sehr. Doris läuft noch umher, um für den Jungen ein warmes Fläschchen zu bereiten. Bald schlafen die Kinder fest. Aber wir werden immer wieder bei der Wachablösung von dem eiskalten Luftzug durch die geöffnete Scheunentür aufgeweckt.

20. April. Noch ist es stockdunkel draußen, da gibt es Alarm. Eiligster Aufbruch der Kolonne. Kaum haben wir Zeit, die verschlafenen Kinder zu wecken und fertigzumachen, Ingolf neu einzuwindeln. Dann wieder betteln und betteln: „Nehmt uns doch noch weiter mit.“ Aus dem recht frischen Morgen entwickelt sich ein sonniger Tag. Wir ziehen vorsichtig auf sandigen Waldwegen zwischen den Ortschaften dahin und meiden feste Straßen. Weit voraus hören wir Schießen, wir sind zurück in einem Kessel. Immer wieder werden Spähtrupps ausgesandt. Rasten, wieder anfahren, halten. Überall in den weiten Wäldern Flüchtlinge, auch liegengebliebenes Fluchtgut, Betten. Mit vieler Mühe schmuggeln wird uns so in Stunden durch die noch nicht geschlossene feindliche Linie. Endlich liegt der Kampflärm wieder hinter uns.

Bei Elsterwerda geht ein Kommando von Wagen zu Wagen: Alle Flüchtlinge abends bei der Verpflegungsausgabe. Es ist jedes Mal eine neue Angst. Die Truppe rechnet damit, jeden Augenblick ins Gefecht zu kommen.

Die Straße nach Dresden ist belebter, viele motorisierte Fahrzeuge. Hell bricht der Mondschein durch die Zweige. Mitten im dichten Wald dann – gegen Mitternacht – wieder Halt. Nun hilft alles nichts mehr, wir müssen von den Wagen herunter. So stehen wir nun – mitten in der Nacht – im Gedränge der Straße, die Kinder weinen, wir frieren alle.

Rufe hin und her – da steht ein LKW irgendeiner SS-Einheit im Wege, einige junge Soldaten darauf – ja – sie nehmen uns mit! Schnell ist alles verstaut, die Kinder bequem gebettet, wir können nur auf Autoreifen sitzen. Die Nachtkühle wird durch die Wagenplane abgehalten. Wir rattern nördlich an Dresden vorbei, wieder nach Südosten – die Einheit soll sich bei Stolpen sammeln. Bald kommen wir wieder an Flüchtlingstrecks vorbei – zu Fuß oder mit Wagen und Karren. Wir sind beklommen: Alle ziehen in entgegengesetzter Richtung wie wir?

Kalt bricht der Sonntagmorgen – der 22. April – an. Einmal knallen Schüsse, aber unser Fahrer hat nur nach einem Hasen im Feld geschossen. Beim Halten läuft Doris wieder in ein Gehöft, um ein Fläschchen warm zu machen.

Radeberg ist wie ausgestorben. Hinter der Stadt stehen Volkssturmmänner auf den Feldern, gedeckt in Stellung. Einzelne PKWs überholen uns. Wir fahren durch welliges, meist offenes Gelände. Urplötzlich bremst der Fahrer ganz scharf, lenkt rechts in einen Feldweg und fährt in einem Bogen übers Feld umkehrend zur Straße zurück. Vollgas! Wir hören Abschüsse. Wenige hundert Meter voraus kamen russische Panzer aus dem vor uns liegenden Wald. Um Haaresbreite wären wir ihnen vor die Rohre gefahren. Nun ist die ganze Straße verstopft durch die nachfolgende Kolonne, die erst langsam und umständlich wenden muß, um dann mit Vollgas zurückzubrausen.

Inzwischen sind deutsche Sturmgeschütze links und rechts der Straße aufgefahren. Abschüsse und Einschläge hüben und drüben. Wir liegen im feindnächsten Fahrzeug mit den Kindern lang auf dem Boden – das Herz schlägt uns bis zum Hals hinaus. Wird uns eine Granate treffen?

Endlos steht die Zeit, dann aber hauen auch wir schnellstens ab und schlängeln uns an einigen anderen Wagen vorbei. Da – Schleudern – Plattfuß – ein Reifen ist kaputt an unserem Anhänger. Motorradfahrer brausen heran: „Anhänger mit Zivilisten abhängen!“ – Aber unser Fahrer fährt wie der Teufel mit schleuderndem Anhänger drauflos. Er läßt uns nicht allein.

Wir kommen nach Dresden-Klotzsche hinein, der Anhänger bleibt liegen. Hilfreiche Hände helfen uns in einen anderen Wagen, und weiter geht es.

Die Gefahr ist vorbei – der Russe folgt nicht nach. Sonntagmittag! Die Kolonne hält in Klotzsche am Straßenrand und erhält Verpflegung. Einzelne Regenschauer kommen. Da nun alles erst einmal Zeit hat, gehen wir in ein Haus am Wege. Familie Heichen ist sehr freundlich und mitfühlend.

Mutti kann nicht nur den Kindern wieder mal etwas Warmes zubereiten, sondern auch Klein-Ingolf wieder einmal richtig baden und auch die angesammelten Windeln waschen. Die zweijährige Karin und die vierjährige Sigrun haben die überstandene Gefahr kaum begriffen, und das ist auch gut so.

Froher fahren wir dann weiter durch Waldgelände mit Kasernen nach Dresden hinein. Überall nur Ruinen und Trümmer in der einst so herrlichen Stadt. Bewaffnete HJ rückt zum Volkssturm-Einsatz ab.

Über Dohna und Pirna kommen wir in das schöne Naturgebiet der Sächsischen Schweiz. Unmittelbar unter den Felsen der Feste Königstein, bevor die Straße in die Stadt hinunterführt, finden wir alle ein Nachtquartier, die Soldaten im Stroh, wir endlich mal wieder in Betten. Für mich ist es besonders herrlich, nach Tagen die schwere Beinprothese abschnallen zu können. Schräg über der Straße ist ein KZ-Lager.

Am späten Vormittag des folgenden Tages (23. 4.) sammelt sich die Einheit auf der Straße nach Pirna. Auch wir erhalten von der SS-Einheit warme Verpflegung. Es ist ein naßkalter, grauer Tag. Durch ein Tal aufwärts fahren wird nach Groß-Cotta. Die Truppe bezieht Privatquartiere, und wir werden mit anderen Flüchtlingen von der NSV untergebracht. Wir erhalten im 2. Stock des Seitenflügels des Schlosses ein Zimmer angewiesen. Es wohnen schon mehr Heimatlose hier. Wir haben Kochgelegenheit. Die Schloßherrin, Baronin von Eschwege, schickt uns durch die Mamsell Bettzeug und Geschirr herauf. Wie heimisch dünkt uns nach Not und Gefahr dieser kleine weißgetünchte Raum. Unsere Kinder blieben gesund, und wir umgeben sie mit aller Liebe. Bei der Baronin, die uns später noch Äpfel und Gemüse schickt, mache ich später noch einen Dankbesuch.

Ein Stockwerk unter uns ist das Sächsische Landesmuseum untergebracht. Die Abortverhältnisse im Hof sind sehr ländlich. Anstelle der verlorengegangenen Lebensmittelkarten erhalten wir auf dem Bürgermeisteramt neue Karten und können Lebensmittel einkaufen, nachdem wir vom Kindersparbuch einen kleinen Betrag abheben konnten.

Am 28. April läuft Doris zu Fuß nach Berggießhübel, weil ein Kinderwagenrad repariert werden muß. Am Sonntag, den 29. April weht ein frischer Wind, doch ist dabei sonniges Frühlingswetter. Mit beiden Mädchen mache ich einen Spaziergang auf den Groß-Cotta überragenden Spitzberg. Am folgenden Tag müssen wir für Ingolf einen Arzt holen. Der 1. Mai bricht sonnig herein. Mit Sigrun wandere ich nach dem schön gelegenen Berggießhübel. Es gibt nichts zu kaufen und auf der Sparkasse kein Geld. Nur der die Baronin beratende Justizrat schickt uns einen Korb Äpfel herauf.

Tags darauf scheint der Himmel einzustürzen bei der furchtbaren Nachricht: Der Führer ist am 1. Mai mittags in den Trümmern der Reichskanzlei in Berlin gefallen. Auch wenn dies eine Lüge war: Damit sinkt die letzte Hoffnung auf eine kaum noch erwartete Wende. Ungeheuer schwer senkt es sich auf die Brust vor dunkler, ungewisser Zukunft.

Jäh hat sich auch die ganze Natur verwandelt. Dichtes Schneetreiben hat eingesetzt, und einen vollen Tag lang liegt unter grauem Himmel hoher Schnee über Park und Bergwelt.

Es ziehen keine Soldaten mehr singend durch die Dorfstraße hinunter. Müde starren wir in diesen naßkalten Tagen durch die kleinen Fenster in die Öde.

Sonntag, den 6. Mai, können wir in der Schule durch die NSV einige Sachen für die Kinder abholen.

Die End-Entscheidung ist nahe gerückt! Die SS-Einheit rüstet zum Aufbruch weiter westwärts. Wieder werden wir mitgerissen. Nach Rücksprache mit dem ebenfalls im Schloß einquartierten Oberst Berg dürfen wir als einige der wenigen Zivilisten weiter mitfahren. Auch der kleine Schneider, der mir meine Hose zurechtgeflickt hat, darf mit.

Montag vormittags ist „Antreten“. Es dauert eine kleine Weile, ehe abgefahren wird. Wir werden in einem kleinen, völlig geschlossenen Lieferwagen untergebracht, mittendrin der Kinderwagen. Ich muß beim Sitzen den Kopf einziehen. Hätten wir gewußt, welchen Abenteuern wir entgegenfuhren, wir wären lieber geblieben!

Unser Fahrer ist ein Rheinländer, Peters, wir erleben noch Einiges mit ihm. Gerade noch hat er im Quartier jungen Soldatenfrauen die Köpfe verdreht, nun nimmt er sich eine alleinstehende Arbeitsmagd, Gerda, mit in sein Abteil. Unser Fahrrad wird hinten an einem LKW angebunden; wir verlieren es an diesem Tag für immer.

Sehr herzlich ist der Abschied von der Baronin und dem Justizrat. Später erfahren wir, daß sich beide, ebenso wie der freundliche Bürgermeister, zwei Tage später, als die Russen einbrachen, erschossen haben, die von der Baronin ebenfalls aufgenommenen wendischen Flüchtlinge haben dann auch das Schloß geplündert.

Über Pirna geht es bis an den Stadtrand von Dresden und dann das Gottenbachtal hinauf. Vollgestopft mit Flüchtenden sind die Straßen. Es wird schon bald ein unübersehbarer Strom, in dem wir wohl oder übel mitschwimmen müssen. Pferdekolonnen und motorisierte Abteilungen, Wehrmacht und Waffen-SS durcheinander, Zivilisten zu Fuß, mit Handwagen und Fahrrädern, voll beladen und bepackt. Hupen, Sonne, Staub, Keuchen, Schwitzen! Ein verzweifeltes Bild. Gerüchte jagen sich, treiben die Massen weiter – sinnlos – Stunde um Stunde. Viele kauern schon total erschöpft am Wegrand. In den engen Straßen von Dippoldiswalde verstopft sich alles. Da – ein Schrei! Tiefflieger kommen heran, MGs tackern, Bomben explodieren. Auch wir sind in einen Hausflur geflüchtet, der schon überfüllt ist, halten die Kinder an uns gepreßt.

Da rollt die Kolonne weiter. Motorradfahrer jagen hin und her. Plötzlich Halt – erregtes Sprechen. Kurz hinter Dippoldiswalde haben uns Russenpanzer den Weg nach Westen verlegt. Unsere Spitze ist teils durchgekommen, teils gefangengenommen. Ein Motorradfahrer blutet. Das Gros wendet wieder nach Dippoldiswalde hinein. Nun bleibt nur noch die Straße nach Süden ins Erzgebirge hinein, auf die sich auch der Flüchtlingsstrom ergießt. Die vielfach gewundene Straße entlang, immer anfahren – halten, anfahren – halten. Wieder und wieder kommen Schwärme von Tieffliegern und harken mit MGs in die Kolonne. Immer wieder flüchten auch wir in überfüllte Häuser und sind erleichtert, „wenn wieder alles gut abging“. Neue Befehle kommen. Die Truppe soll sich fertig machen zum Gefecht. Wir müssen raus aus unserem Wagen und werden in diesem Inferno auf einen hohen LKW verfrachtet, der mit vollen Benzinfässern beladen ist. Obendrauf hocken wir mit dem Kinderwagen. Die Mädchen werden mit Decken in Lücken gesteckt. Den Kinderwagen halten Doris und ich während der Fahrt fest, besonders bei dem Ruck des Anfahrens und Haltens. Das fällt mir jedes Mal schwerer mit meinem Bein. Uns ist die Kehle wie zugeschnürt, aber die Kinder haben dauernd Hunger. Zwischendurch bei Halt werden am Bachrand schnell mal Ingolfs Windeln durchgespült.

Es wird Abend, es wird Nacht. Wir halten in einem engen Waldtal, durch das ein Bergwasser schäumt. Der Fahrer erklärt, er müsse unbedingt ein paar Stunden schlafen und rollt sich sogleich auf seinem Sitz zusammen. Der Verkehr läßt etwas nach, doch rollen die ganze Nacht Fahrzeuge vorbei. Es wird eine bitter kalte Nacht in der Nähe von Bärenstein. Wir mummeln die Kinder ein und frieren selber entsetzlich. Ingolf weint vor Hunger. Was muß das kleine Kerlchen mit seinen neun Monaten schon alles mitmachen. Mutti hat keine Ruhe mehr; sie wickelt Ingolf in den Bademantel und geht in die Nacht hinein, eine menschliche Behausung zu suchen. Sie geht wohl eine Stunde weit, findet ein übervolles Lazarett und kann dem Kleinen ein warmes Fläschchen machen und ihn trockenlegen. Sie bringt uns noch warmen Kaffee mit. Im Flur des Lazaretts haben ihr andere Flüchtlinge in einem unbedachten Augenblick ihren Mantel gestohlen. Halb verzweifelt ruht sie nicht eher, bis sie ihn wieder hat. Doris kennt keine Müdigkeit – welche Mutterliebe, welche Stärke! In mir würgt ein Schluchzen hoch. Dann hocken wir alle wieder mit den anderen Gejagten auf den Benzinfässern.

Unendlich langsam graut der Morgen dieses kalten 8. Mai 1945. Die Straße ist noch weit mehr verstopft als am Tag vorher. Es geht nur noch ganz langsam, meterweise vorwärts, durch allerschönste Gegend, für die wir keinen Sinn haben. Aus Waldtälern windet sich die kurvenreiche Straße höher ins Erzgebirge. Tote Menschen, tote Pferde liegen am Straßenrand. Wieder und wieder sind Tiefflieger und Bombenwerfer da. Immer wieder runter vom Wagen. Schließlich bin ich so kaputt, daß ich nicht mehr klettern kann und bleibe mit Ingolf allein auf den vollen Benzinfässern sitzen. Nur eine Kugel oder ein Splitter in ein Faß, und wir fliegen in tausend Fetzen auseinander. Aber dennoch sind alle Sinne hellwach und klammern sich an das Leben. An diesem Tag sterben wir hundertmal!

Jegliches Gefühl für Zeit ist verlorengegangen. Einmal liegen wir in tiefer Stille im Hochwald auf Moos, schauen durch die Gipfel in den blauen Himmel und möchten glauben, dies wäre die Wirklichkeit und alles andere ein infernalischer Traum.

Am Nachmittag kommen wir aus dem Wald heraus und halten auf freier Fläche vor Altenberg. Normalerweise bräuchte man zwei bis drei Minuten mit dem Auto durch das Städtchen. Wir brauchen heute genau vier Stunden für eine Strecke von 1 – 1 ½ km bei diesem meterweisen Vorrücken. Jetzt können wir es genau sehen, wenn Feindflieger auf uns zukommen oder Bombergeschwader direkt über uns hinweg zu anderen Zielen ziehen. Dazu liegt Artilleriefeuer auf Altenberg, Einzelne Häuser – wie auch ganze Straßenzüge – stehen in Flammen, während wir langsam hindurchkommen und einzelne Granaten bald näher, bald ferner, krachend einschlagen. Zwischendurch läuft Doris wieder weit herum, um den Kindern einen warmen Brei zu kochen.

Die Straße senkt sich ins Tal, wir werden wieder in den alten Lieferwagen verfrachtet. Während wir noch beim Umladen sind, quetscht sich ein deutscher Panzer vorbei und walzt einen Chausseebaum um. Ein Ast reißt dabei unseren Kinderwagen von den Kanistern des LKW und drückt ihn zusammen.

Doris – auf der anderen Wagenseite – durchzuckt ein eisiger Schreck: der Kleine. Aber ich hatte ihn kurz vorher aus dem Wagen genommen und halte Ingolf auf den Knien, um ihn besser herunterreichen zu können. Nur die Thermosflasche und ein Topf sind bei dem Proviant in dem ohnehin engen Raum verstaut. Jetzt ist das Fahren eine unaufhörliche Qual.

Der Motor des Wagens ist kaputt. Wir werden von einem anderen Fahrzeug im Schlepp gehalten. Bei jedem des Hundertmal-Anfahrens spannt sich erst das Seil und reißt dann mit einem Ruck unseren Wagen nach vorn. Und jedes Mal schlage ich heftig mit Kopf und Körper gegen die Blechwand, und Doris stürzt über den Kinderwagen. Wir versuchen krampfhaft, die Kinder vor den harten Stößen zu bewahren, doch gelingt uns das nicht immer.

Die Kinder schlafen in allen möglichen Stellungen. Wir sind auch hundemüde, aber das Rucken reißt uns ständig hoch. Dazu brennt der Staub, der wie ein dicker Nebel auf den Straßen liegt, unbarmherzig in den Augen. Wir kommen wieder durch eine Ortschaft. Viele Gebäude brennen, drüben Explosionen in einer Fabrik. Links und rechts und zwischen den Fahrzeugen marschieren und halten junge Soldaten. Einige werfen schon ihre Gewehre weg. Einige Wortfetzen dringen zwischen Motorgeheul und Quietschen der Bremsen ans Ohr: „Russen dicht hinter uns – alles zu Ende – Kapitulation!“ Das Gedächtnis setzt aus.

Am Morgen des 9. Mai 1949 stehen wir hinter Zinnwald in einem niedrigen Bergwald auf der Höhe des Erzgebirgskamms. Frei gewordene KZler laufen in ihren gestreiften Anzügen durch Felder und Wälder nach Beute. Wir klettern aus unserem Wagen, verdreckt und staubverkrustet. Und nun sehe ich erst, was los ist. Ein Marmeladeeimer ist umgekippt! Schuhe, Strümpfe, die Hosen bis zum Knie sind dick mit Marmelade beschmiert. Mühsam kratze ich mit einem Holzspan den Brei ab und reinige mich etwas mit Grasbüscheln. Wir fahren weiter und sind schon kurz über der Grenze im Sudetengau.

Im hohen Wald bei Mühlberg ist am Vormittag dieses 9. Mai alles zu Ende. Bedingungslose Kapitulation. Baumsperren auf schmalen Bergstraßen verhindern zudem jedes Weiterkommen. Soldaten werfen die Gewehre weg und versuchen Zivilkleidung zu erlangen. Flüchtlinge machen aus ihrer Habe kleinere, tragfähige Bündel und steigen gemeinsam mit Soldaten seitwärts durch Felsen und Dickicht. Viele Fahrer lassen ihre schweren LKWs die steilen Südhänge ins Gebüsch hinunterrollen. Kisten und Kasten werden geöffnet, es gibt übergenug Zigarren, Zigaretten, Bonbons, Schokolade, Konserven, Butter, Kleidung und Wäsche zum Aussuchen. Auch wir lassen einiges zurück und suchen uns Neues. Karins voll beschmutzter Trainingsanzug bleibt im Wald.

Ich lasse Peters nicht aus den Augen, als er sich einen geländegängigen PKW aussucht. Wir versuchen, mit ihm und Gerda seitwärts zu entkommen. Zunächst aber schlagen wir eine Anzahl Konservenbüchsen auf – Birnen und Kirschen – trinken den köstlichen Saft und geben auch den Kindern reichlich davon. Eine Anzahl Büchsen verstauen wir im Auto. Zwischendurch schlagen einige Granaten in nächster Nähe ein, treiben alle zur Eile. Doch einige Landser trinken in aller Ruhe Schnaps. Wie viele schöne und kostbare Dinge bleiben allein an dieser Stelle liegen!

Die Mehrzahl versucht, zu Fuß auf der Höhe des Gebirgszuges nach Westen zu entkommen. Wir fahren im PKW den Waldweg zurück zur Straße, wo wir herkamen, doch heftiges Schießen zwingt uns wieder zur Umkehr. Nun wählen wir einen ganz schmalen und ausgefahrenen Waldweg. Unser offener Kübelwagen schafft das. An einer Kreuzung im Wald räumen Zivilisten gerade ihren LKW aus und machen sich kleine Bündel. Seitwärts der Straße kommen wir neben einem Dorf auf eine gute Landstraße und fahren an einer großen Kreuzung nach Westen, andere Fahrzeuge haben dasselbe Ziel. Doch bald stehen wir vor einer wohl 200 m tiefen Baumsperre. Schon versuchen einige, die langen Fichtenstämme wegzuräumen, doch bald erkennen alle, daß dies eine tagelange Arbeit wäre.

Der weitere Fluchtweg nach Westen ist abgeschnitten. Verzweifelt irren wir umher. Es ist alles aus – Ende. Alle maßlosen Opfer – draußen und drinnen – waren vergeblich – der Krieg ist aus und verloren! Verbittert und voller Hader mit diesem Geschick – im Gedenken an alte Kameraden an der Front und die eigene stolze Soldatenzeit, alles Leiden und Kämpfen – verlorene Heimat – kann ich Schluchzen und Tränen nicht mehr zurückhalten. Doris streichelt mich. Peters ist auch recht ernst. Und dann trinken wir abwechselnd aus seiner Likörflasche, bis ich mich „wurstiger“ fühle. Wir steigen in den Wagen, fahren in das nächste Dorf und machen Quartier bei dem kleinen Bergbauern Gaupe in Vorder-Zinnwald. Seine kleine Scheuer liegt unmittelbar an der alten Reichsgrenze.

Nachkriegszeit

Es ist ein armer Menschenschlag, der hier auf der Höhe des Erzgebirges lebt. Jetzt sind alle Häuser mit Flüchtlingen, befreiten KZlern und ausländischen Zivilarbeitern belegt, übervoll. Mit Angst und Grauen erwarten die bisher so abgelegenen Bergbauern angesichts des Flüchtlingselends und der Berichte, des Schießens und der Bombardierung der letzten Tage, das Erscheinen der ersten Russen.

Wir laden Frauen und Kinder ab und fahren nach kurzer Zeit nochmals in den Wald zurück. Am Kreuzweg durchsuchen wir den halb ausgeräumten LKW. Peters fährt noch vorsichtig ein Stück weiter, ist aber bald wieder da. An dem Platz, wo die Kolonne auseinanderlief, sind schon Russen. Ich habe inzwischen aus dem einsamen Wagen kleine Säckchen mit Mehl, Zucker, Salz, Erbsen usw. zusammengetragen, die in Beuteln herum lagen. Besonders wertvoll ist ein großer Steintopf, mit Pökelfleisch gefüllt. (Ohne diese uns „zugefallenen“ Nahrungsmittel wären wir verhungert!). Wir verstauen alles im Auto und fahren ins Quartier zurück. Der Wagen mit Konservendosen und einem vollen Benzinkanister wird seitwärts im Hof getarnt. Wie wichtig diese Vorräte für uns sind, erweist sich erst in den nächsten Wochen.

Butter ist genügend da, so braten wir große Stücke Pökelfleisch und geben auch Gaupes große Stücke ab. Lieblich duftet schon der Braten in der Nase – da stürzt jemand ins Zimmer: „Die Russen kommen!“ Ein vollbesetztes Auto mit lärmenden, betrunkenen Siegern fährt plündernd von Haus zu Haus. Gaupes sitzen wie erstarrt, bringen kein Wort hervor – vor Grauen – wie die Bande Revolver schwingend ins Zimmer trampelt und „Schnaps, Schnaps“ brüllt, keine Ruhe gibt. Peters gibt ihnen etwas von seinem Vorrat ab und bringt eine halbe Flasche zum Vorschein. Schnell ist sie leer, und tobend verlangen sie mehr in Siegerstimmung. Was bleibt uns übrig? Wir bringen unser soeben fertiggebratenes Fleisch auf den Tisch, schmatzend fallen sie drüber her. Peters spielt einige Stücke auf dem Schifferklavier, das sich gefunden hat. Da ist die Meute satt und besänftigt, wird gemütlich. Sie tanzen herum und versuchen selbst das Instrument. Der Anführer drängt zum Aufbruch.

Draußen machen sie Schießübungen nach einem Telefonmast, aber alle schießen vorbei, bis sich Peters, der inzwischen längst Räuberzivil trägt, die Pistole ausleiht, schießt und trifft. „Gutt, gutt“ sagt lachend der Anführer. Dann fahren sie 100 m weiter zum nächsten Gehöft. Auch diese Gefahr ging glimpflich vorüber. Dann braten wir uns neues Fleisch, essen tüchtig und tun einen ausgiebigen Schlaf.

Am nächsten Tag, den 10. Mai, ist Himmelfahrt. Vormittags machen wir neue Pläne, dann wird alles verstaut. Ich sitze auf dem rückwärtigen Autorand und halte den Kinderwagen fest. Nach dem holprigen Dorfweg kommen wir schnell auf die Landstraße und die Anhöhe hinan, hinter der die alte Reichsgrenze liegt – im Dorf Hinterzinnwald. Wir wollen versuchen, am Fuß des Gebirges entlang den Ami zu erreichen, der schon an Chemnitz vorbei in Freiberg sein soll. Ganz unerwartet streikt der Motor, der Wagen rührt sich nicht mehr. Peters arbeitet und schwitzt – es vergeht eine Viertelstunde nach der anderen.

Da kommen schon einige Russenkavalleristen durchs Feld geritten – auf uns zu. „Kaputt, kaputt“ rufen wir ihnen zu, da reiten sie gleichgültig weiter. Schon ist wieder ein PKW da, sie wollen unseren Wagen kassieren. „Kaputt“, sie fahren weiter. Es ist eine dauernde Angst, daß wir unseren Wagen loswerden. Wir zeigen immer wieder auf unsere Kinder. Ein vollbesetzter LKW bremst scharf, einige Russen springen herunter, schnüffeln um den Wagen, nehmen uns eine Anzahl Konservendosen fort. Peters arbeitet weiter mit Schraubenschlüsseln. „Kaputt“ sage ich. Schließlich, nachdem er sowohl in Wasser wie in Benzinkanister hineingerochen hat, schleppt er unseren vollen Benzinkanister zum LKW, fort ist er. Dann ist eine Weile Ruhe.

Nach und nach kommen einige deutsche Landser die Straße herauf und schleichen seitwärts am Wald entlang. Bald kommen ganze Trupps, in ihrer Mitte Frauen und Mädchen. Sie helfen uns, den Wagen die Steigung hinaufzuschieben. Immer wieder springt der Motor an und steht gleich wieder nach einigen Metern. Unser weniges Gepäck haben wir im Gebüsch versteckt – aus Angst vor Plünderung. Ein Schwerkriegsbeschädigter mit Frau und Kind kommt unendlich langsam und angespannt vorüber. Alle treibt es über die Reichsgrenze. Im Dorf vor uns sollen russische Flintenweiber ein schlimmes Regiment führen. Schweren Herzens entschließen wir uns nach kaum begonnener Fahrt zur Rückkehr. Einige vorbeikommende Landser helfen uns, die Steigung wieder zu überwinden. Während ich nach Russen Ausschau halte, läßt Peters den Wagen wieder nach Vorderzinnwald hinunterrollten, biegt aber unten links in den Landweg ein, der ebenfalls zur Grenze führt.

Im letzten Haus, bei Bauer Marzin, bleiben wir, obwohl in dem kleinen Haus schon 40 Flüchtlinge Unterkunft suchen. Wir finden nur noch Platz in der luftigen, strohgefüllten Scheune, auf Heu. Einen Meter dahinter verläuft schon die deutsche Grenze. Das Wiesengelände fällt nach zwei Seiten steil ab. Das Auto decken wir mit Zweigen zu.

Nachmittags ist wieder ein Reiter da, ein aufgedunsenes Mongolengesicht; er verlangt Uhren und Ringe. Peters gibt ihm eine Zigarette und versucht sich mit einigen Brocken Russisch. Der Russe stiert noch eine Weile in die Gegend, Hand am Revolver, und verschwindet langsam. Frauen und Mädchen halten sich tagsüber auf dem Hausboden versteckt. Wir kennen die Gelüste dieser Steppensöhne, denen Stalin alle deutschen Frauen und Mädchen versprochen hat.

Einzig schön ist dieses Land – von hier oben aus betrachtet. Bergkuppen und Waldstücke, und dazwischen eingebettet, Dörfer. Der Grenzverlauf ist nicht zu erkennen; gehetzte Augen schauen nur auf jeden sich bewegenden Gegenstand im Gelände. Links am Horizont brennt das Städtchen Altenberg, wo sich der Volkssturm lange verteidigte. Tagelang brennt der Ort, und auch später geben die Sieger der Bevölkerung lange keine Lebensmittel frei.

Es ist Abend geworden und kühl. Überall auf den Bergen und in den Tälern brennen Dörfer und einzelne Gehöfte. Unten im Tal steigen fortgesetzt Leuchtkugeln hoch – über hundert zähle ich in einer einzigen Stunde. Die Russen machen sich ein Vergnügen.

Wir sind so ganz voll Bitterkeit und Sorge. Aber die Sterne leuchten ruhig und vertraut wie immer. Wir breiten unsere Decken aufs Heu, die Kinder zwischen uns, und schlafen gut. Peters und Gerda klettern noch ein Stockwerk höher. Gerda tut auch am nächsten Tag überhaupt nichts, holt sich aber aus unserer Pfanne die größten und besten Fleischstücke für sich und ihren Geliebten weg. Sie hat sich in wenigen Tagen mächtig entwickelt. Peters weicht mir aus, wenn ich von Weiterfahrt spreche. Stattdessen sitzt er viel mit neu hinzu gekommenen Kerlen zusammen in heimlichen Gesprächen. Und richtig, ganz früh am nächsten Morgen huschen sie ohne jedes Abschiedswort mit heimlich geschnürtem Bündel aus dem Scheunentor. Ich richte mich auf und sehe sie nur groß an. Gleich darauf springt der Motor an, und sie verschwinden auf Nimmerwiedersehen.

Nun sitzen wir mit unseren kleinen Kindern und dem Gepäck – ganz auf uns selbst angewiesen – hier im Gebirge. Würgendes Gefühl des Ganzverlassenseins.

Hinter uns am Berge haben sich KZler eingenistet, erst in einer Jagdhütte, dann auch im Häuschen gegenüber. Sie haben sich Pferd und Wagen besorgt und kutschieren und requirieren viel in der Gegend. Es sind alles Ausländer, und uns ist nicht wohl bei dieser Nachbarschaft. Abends kommen sie immer in die überfüllte Stube zu Marzins, um Radionachrichten zu hören. Es sind gebildete Menschen mit guten Manieren darunter, zumeist Italiener. Marzins, die gleich anderen Bauern seit der Kapitulation die weiße Fahne gehißt haben und später die tschechische Fahne herausstecken, um der Plünderung zu entgehen, tun anfänglich den Flüchtlingen, was sie tun können. Aber ihre Kartoffelvorräte schwinden auch schnell dahin. Abwechselnd gekocht wird den ganzen Tag für die vielen Menschen, es geht ziemlich reibungslos. Marzins geben auch immer wieder Geschirr her.

Ingolf liegt im großen Kinderbett in der Aufenthaltsstube, wo auch die anderen Kinder untergebracht. sind. Die Familien sind teils aus der Dresdner, teils aus der Bautzener Gegend. Gemeinsame Not bringt uns alle näher. Zwei Häuser weiter wohnt ein flüchtiger katholischer Pfarrer aus der Neu-Bentscher Gegend. Wir halten als Landsleute Verbindung. Er will manches von Ami-Kriegsgefangenen wissen.

Einmal, als ich ihn besuche, nehme ich Karin mit. Auf einmal fliegt ein angriffslustiger Gänserich Karin auf den Rücken und wirft sie um. Das Kind ist zu Tode erschrocken, und ich muß sie lange trösten. Später suche ich selbst die beiden Amerikaner auf, von denen so viel erzählt wird. Sie wohnen weit weg, am anderen Dorfende, und der Weg führt an zweifelhaften Ausländer-Haufen vorüber. Die beiden Amis sind blutjunge Kerle. Sie haben ein Auto organisiert, von Russen Benzin und Ausweise erhalten und wollen ihren Landsleuten entgegenfahren. Sie werden bestürmt, amerikanische Truppen, von denen man mehr Menschlichkeit erwartet, hierher zu bringen. Gerade wurde wieder ein Kind von einem Russenauto tödlich überfahren.

Dauernd kommen auch noch alte Soldaten vorüber. Einmal liegen zwei nette junge Kerle in schauderhaftem Räuberzivil bei uns, junge Offiziere. Wieder kommt ein Trupp durch Wiesen und Gestrüpp vorsichtig zu uns herauf, da wir buchstäblich im letzten Haus an der Grenze liegen. Groß ist die Freude, als die beiden Wiener ihre eigenen Leute wieder erkennen, mit denen sie tags darauf weiterziehen. Erste Greueltaten der Tschechen werden erzählt. Wir leben von unseren Vorräten. Dann kann Doris unten beim Kaufmann etwas Zucker, Mehl und Haferflocken kaufen. Einmal wagt sie sich sogar mit einem Dresdener Maler durch den verrufenen, bandenverseuchten Wald hinunter nach Geising. Lange warte ich dann in großer Sorge auf ihre Rückkehr. Endlich erscheint sie nach großem Umweg – allein – mit Brot. Der „tapfere Beschützer“ hatte sich nicht mehr zurück getraut.

Sonntag morgen liegen plötzlich einige Packen Knäckebrot neben uns im Heu. Niemand weiß, woher. Auch an den folgenden Tagen erhalten wir noch verschiedentlich Brot, Margarine und andere Lebensmittel. Es stellt sich heraus, ein ehemaliger KZler, ein Jugoslawe, ist der „Retter in der Not“. Wir sind ergriffen. Der eigene Kamerad verläßt uns schnöde, und der fremde KZler ernährt uns mit. Alle KZ-Insassen haben das Lebensmittel-Depot ihres ehemaligen Lagers ausgeräumt. Marzins haben Angst vor ankommenden Tschechen und möchten gern alle aufgenommenen Flüchtlinge los sein, sie drängen und drängen. Die Bautzener ziehen los, andere rüsten ebenfalls zum Aufbruch. Mit Mühe kann ich im Dorf für unseren Gepäck-Transport einen altertümlichen Kinderwagen kaufen. Unseren Kinderwagen bringen Italiener in Ordnung. Durch Vermittlung des Jugoslawen – er sagt mitleidig: „Frau, kleine Kinder – sehr schwer“ – erbieten sich drei der KZler, uns mit unserem Gepäck durch den höchst unsicheren Wald den steilen Weg nach Geising zu bringen, obwohl sie im voraus wissen, daß ich ihnen nichts dafür geben kann.

In der Nacht vorher bricht ein furchtbares Gewitter los. Mitten im Regen trägt Doris ein Kind nach dem anderen ins feste Wohnhaus, ehe sich die wolkenbruchartigen Schleusen noch ganz geöffnet haben. Unaufhörlich Blitze, Donner und das Echo aus den Tälern. Es kracht infernalisch. Es regnet überall herein. Ich liege ohne Prothese unter der Zeltbahn im Heu und lasse alles über mich ergehen. Tag und Nacht können wir ja unsere Sachen nicht ohne Aufsicht lassen. So erlebte ich es ja kurz vorher allein, daß ein dreister Ausländer in die Scheune kommt und mir meine einzige, soeben abgelegte Jacke entwinden will. Mit letzter Kraft zerre ich hin und her, und er, solchen Widerstand nicht erwartend, läßt schließlich ab.

Alle Ausländer waren in diesen Tagen die unbestrittenen Herrn neben den Russen und konnten machen, was sie wollten. Alle Deutschen waren willenlos und verängstigt.

Ich dachte auch an den sudetendeutschen Skimeister aus einem Dorf unten im Tal, der – nachdem seine Frau mit den Kindern aus Grauen vor den Greueln Freitod gesucht hatte – sich voller Verzweiflung die Pulsadern aufgeschnitten hatte, und der einen Tag lang verbunden neben uns im Heu lag, bis ihn seine Angehörigen abholten.

Am 18. Mai – morgens um 5.30 brechen wir mit zwei italienischen Helfern und den Dresdnern und Chemnitzern auf. Die Wege sind sehr aufgeweicht vom nächtlichen Gewitter, aber es wird ein schöner Tag. Ich habe genug mit mir selbst zu tun auf diesem steilen, schmierigen Weg durch Wald und Wiesenhänge. Doch kein Bandit hält uns zu so früher Stunde an. So kommen wir nach Geising hinein und verabschieden uns dankbar von unseren Helfern, ohne die wir es nicht geschafft hätten.

Eine Russin mit roter und gelber Flagge steht als Verkehrsposten auf der Straße, ein dickes, selbstbewußtes Flintenweib. Sigruns helles Blondhaar faßt sie an. „Sköön“ sagt sie. Zuerst gehen wir zu der freundlichen Bäckersfamilie Petzold, wo Doris schon einmal Brot erhielt.

Dann kommen wir nebenan im schönen Haus des noch flüchtigen Malermeisters Tröger unter, wo andere Flüchtlinge zusammenrücken. Unten, in einer Wohnstube sind russische Soldaten untergebracht. Außer uns wohnt noch hier der Dresdener Handelsvertreter Hans Steuer mit Frau, drei Kindern und Kindermädchen. Außerdem ist da noch ein gerade aus dem Lazarett entlassener deutscher Soldat, Conrad Herold aus der Laubaner Gegend, also halber Landsmann. Wir sind bald gute Freunde. Conrad kann noch etwas russisch, das ist gut. So stellt er immer die Verbindung mit der Besatzung her. Wir haben eines der holzgetäfelten Zimmer im ersten Stockwerk bezogen und verstauen unsere Vorräte unter dem Strohsack eines Bettkastens.

Der Tag war anstrengend, wir liegen im tiefen Schlaf. Um 1.30 nachts poltern schwere Stiefel die Treppe herauf, hauen gegen unsere Tür – Fluchen und Schimpfen. Russen wollen „Haussuchung machen“. In aller Eile werfen wir etwas über und öffnen. Drei, vier Mann dringen ein. Wir können ja kein Licht anmachen. Wir sehen nur in aufgeblendete Taschenlampen. Wir verstehen auch ihr drohendes Schimpfen nicht, nur immer „Paß, Paß“! Zu unserem Glück taucht nun Conrad auf, dolmetscht und sucht zu beschwichtigen. Sie studieren unsere vorhandenen Ausweise immer wieder und durchwühlen unsere Sachen. Ich weise auf unsere Kinder, die munter geworden sind, zeige auf mein Holzbein. Endlich beruhigen sie sich und poltern ab. Aber der Schreck ist uns doch in die Knochen gefahren.

Am folgenden Tag kommen von der nahen Grenze her tausende deutsche Kriegsgefangene aller Waffengattungen und Ränge, mit kleinen Bündeln, zerrissen, verdreckt, teils blutverschmiert, unten auf der Straße vorbei. Stundenlang, begleitet von mongolisch aussehenden Steppenreitern und teils von jungen Tschechen, die unaufhörlich mit Peitschenhieben dreinschlagen. Müde und fußkranke Leute werden angebrüllt und mit der Knute bearbeitet. Es ist ein unvergeßliches Bild maßlosen Jammers und weckt tiefinnerlich grimmigste Haßgefühle. Dann kommen wieder – entgegengesetzt – ganz junge Tschechen mit Wagenladungen voll geraubten deutschen Gutes und streben der Grenze zu. Sie sind maßlos frech, und jeder Einwohner achtet auf sein Eigentum. Immer neue Gefangenenkolonnen kommen vom Gebirge herunter; sehr viele Frauen und Mädchen haben sie schützend in ihre Mitte genommen.

Doris hat viel zu waschen. Ingolf macht viele Windeln voll, und auch Karin hat Durchfall bekommen. Da hier keine Milch für Kleinkinder zu erhalten ist, macht sich Mutti tapfer auf, oben von Marzins etwas Milch zu erbetteln, doch muß sie auf halbem Wege umkehren. Man warnt sie, daß Wegelagerer und Banditen im Walde sind.

Dann poltern ukrainische Fremdarbeiter im Hause herum; wir wagen gar nicht erst, schlafen zu gehen, legen nur die Kinder hin und wachen unter leisen, stockenden Gesprächen bis nachts ½ 3 Uhr unten in der kleinen Küche. Es kommen noch einige der einquartierten Russen herein und unterhalten sich halbwegs mit Conrad. Dann gehen wir doch schlafen.

Trüb und regnerisch bricht der Pfingstsonntag herein, es ist der 20. Mai 1945. Eine andere Flüchtlingsfamilie, Schrimpf aus Chemnitz, die hier ihre Sachen untergestellt hatte, holt diese ab. Hans Steuer macht sich nach Dresden auf, um nach seiner Wohnung zu sehen. Am Pfingstmontag kommt der Hauseigentümer Tröger mit Frau und Tochter zurück. Es sind nette, freundliche Leute. Sie bringen ihre ausgeplünderten Schlafzimmer in Ordnung, und wir richten uns alle ein. Brot und Mehl bekommen wir immer wieder etwas vom freundlichen Bäcker Petzold, doch hört dies später auf, da sie Angst vor ihrem neuen Gesellen haben, der aus dem KZ kam und Teile von den Vorräten seines Meisters verschiebt.

Von Conrad Herold lerne ich einige russische Brocken und Sätze. Wieder kommen regnerische Tage und Nächte. Nun ereignet sich der groteske Fall, daß die Russen, die sich mit Conrad verständigten, diesem eines Abends Kennwort und Gewehr geben, damit er für einige Nachtstunden ihren Wagenpark bewacht, während sie zu Mädchen gehen. Beim Bürgermeister versucht Doris am 23. 5. vergeblich, für uns Lebensmittelkarten zu erhalten. Die Flüchtlinge sollen alle raus.

In diesen Tagen wird die gesamte Bevölkerung von Geising auf dem Marktplatz zusammen geholt. Es spricht ein russischer Offizier oder Kommissar durch Dolmetscher u. a., daß es eine verdammte „Göbbels-Lüge“ sei, daß deutsche Frauen und Mädchen von Russen vergewaltigt würden. Unbeweglich hören wir und die Geisinger das alles an und denken dabei, daß gerade hier in Geising wohl die Hälfte aller Frauen und Mädchen von den Soldaten vergewaltigt wurde.

Am 24. 5. reist Familie Schrimpf ab. Doris hat große Wäsche. Ingolf fällt aus dem Bett und schlägt sich sehr. Abends kommen wieder lange, müde Trupps deutscher Soldaten vorbei. Die Gefangenen halten sehr lange auf der Straße. Endlich dürfen sie vor der kühlen Nacht in die Häuser treten. Wir haben 50 Mann im Haus, die überall herum liegen. Die Frauen kochen die halbe Nacht Kaffee für die Armen, von denen viele später in Rußlands Weiten enden werden. Früh am Morgen ziehen sie weiter, nehmen allerdings auch Conrads heimlichen Zigarettenvorrat, den sie entdeckt haben, restlos mit.

Hans Steuer kommt aus Dresden zurück. Unsere Kinder müssen wegen Durchfall alle im Bett bleiben. Aus letzten Vorräten backt Doris noch Plätzchen. Am Sonntag kommen Soldaten der Wlassow-Armee vorbei. Sie gehen einem traurigen Geschick entgegen.

Bei unseren schwindenden Vorräten – Neue gibt es nicht – können wir nicht länger in Geising bleiben. Familie Steuer lädt uns ein, mit ihnen nach Klotzsche zu kommen. So packen wir am 30. Mai und machen den Kinderwagen fertig. Der gütige Karl Tröger nötigt mir noch 100 RM auf. Ich nehme das, denn wir haben auch kein Geld mehr. Sehr herzlich ist der Abschied.

Donnerstag, den 31. Mai ziehen wir in strömendem Regen von Geising ab. Im letzten Augenblick erlangen wir noch einen Platz in einem Güterwagen. Aber die Fahrt geht wegen der zerstörten Brücken nur einige Stationen weiter. In Bärenstein muß alles raus. Russische Soldaten laufen mit Regenschirmen auf der Straße, komischer Anblick.

Der feine Regen rinnt den ganzen Tag ohne Aufhören und durchnäßt uns alle bis auf die Haut. Mühsam ziehen wir das Müglitztal hinunter auf das Städtchen Glashütte zu. Die meisten Flüchtlinge sind uns weit voraus. Es bleibt auch wenig Zeit, um den Anschlußzug zu erreichen. Conrad hilft mir tüchtig, auf der aufgeweichten Straße den alten Kinderwagen, der mit Gepäck vollgeladen ist, zu ziehen. Wir sind weit zurück. Da zerbricht uns ein Wagenrad. Nun hat es Conrad schwer, er stöhnt und schwitzt mit der Last. Nur einen Kilometer weiter und das zweite Rad bricht ebenfalls. Es ist wiederum zum Verzweifeln – im strömenden Regen – und wenn wir bedenken, daß der einzige Zug nicht wartet. So eile ich allein als letzter die paar Kilometer zum Bahnhof und versuche, einen Leiterwagen zu leihen. Doris eilt inzwischen zurück. Schließlich wird unser Gepäck noch auf Steuers Wagen umgeladen. So klappt es noch im letzten Augenblick mit dem Zug. Der zerbrochene Wagen bleibt im Straßengraben zurück, wo schon so manches Gerümpel liegt.

In Niedersedlitz können wir schließlich auf die überbesetzte Straßenbahn umsteigen. Schon bei der zweiten Bahn kommen wir mit und fahren in das zertrümmerte Dresden hinein – bis zur Elbfähre am Sachsenplatz, dann über die Elbe und nun zu Fuß nach Klotzsche, denn da fährt noch keine Elektrische.

Doris möchte den Kindern schnell etwas Warmes bereiten. Wir finden endlich ein unzerstörtes Haus, aber die hartherzigen Bewohner lassen uns in unseren durchnäßten Sachen nur auf den Steinfliesen im Hausflur ausruhen. Der 8 km lange Fußmarsch wird mir blutsauer. Immer öfter muß ich rasten, komme nur noch im Schneckentempo voran. Ein russischer Soldat reicht uns von einem vorüberfahrenden Brotauto mitleidig ein Brot herunter.

Dann sind wir in der schönen, unversehrten Villa von Steuers in der Lutherstraße, einer Waldstadt. Wir können uns gründlich waschen, pflegen, ausruhen – welche Wohltat. Noch andere Flüchtlinge haben sich hier eingenistet, fühlen sich schon als Herren. Steuers müssen sie erst wieder etwas zurechtweisen.

Ich sitze im Klubsessel und darf den umfangreichen Bücherschrank nach Belieben durchstöbern, lesen, ausruhen und mich ablenken. Doris hat andauernd mit Waschen zu tun. Und sie ist in dauernder Sorge, was sie kochen soll. Kinderlärm und auch mal Heulen erfüllt die Räume. Ingolf bekommt sein drittes Zähnchen (oben das erste). Es ist allerschönstes Juniwetter geworden. Überall in den Gärten blühen die Rosen. Oben im Gebirge war alles noch weit zurück. Wegen der Ernährung herrschen schlimmste Zustände. In den Vororten ist es schlimmer als in der zerstörten Innenstadt. Steuers haben alles Eigentum behalten und aus dem Zusammenbruch noch vieles hinzugewonnen. Uns gegenüber sind sie entgegenkommend nett. Frau Steuer sucht die Freundschaft von Doris zu gewinnen.

Am Samstag besuchen wir Familie Heichen und erzählen von unseren schlimmen Abenteuern seit dem 28. April. Hans Steuer fährt mit den Mädchen nach Meißen, um dort untergestellte Sachen wieder abzuholen. Wir schmieden neue Pläne; möchten nach unserer alten Heimat Sorau zurück. Conrad zieht die Sorge um Frau und Kind nach Sächsisch-Hausdorf bei Lauban. Die Ungewißheit macht ihn ruhelos. Aus primitiven Brettern zimmert er uns einen Flüchtlingskarren für unser Gepäck. Er ist stabil, aber schwerfällig – einfach ausgesägte Holzräder mit durchgesteckten Holzstäben.

6. Juni 1945 – neuer schlimmer Zwischenfall. Binnen zwei Stunden muß die ganze Lutherstraße für russische Einquartierung geräumt werden. In Steuers Wohnung will ein russischer General einziehen. Doris läuft los, ein neues Quartier zu suchen. Herr Steuer ist außerhalb. Übereilt wird alles eingepackt. Wir helfen vor allem Frau Steuer mit ihren Kindern, für die es schlimm ist. Als die Russen nach vielen Wochen ausziehen, ist die schöne Wohnung völlig ausgeplündert und verschmutzt.

Neue Unterkunft finden wir bei weniger freundlichen Leuten in einer durchlöcherten Dachstube. Wir sehen den Himmel durchs Dach. Gut, daß es nicht regnet, sonst müßten wir den Regenschirm aufspannen.

Unten auf der Straße zieht ein Trupp Russen – mehrstimmig singend – immer hin und her. Von irgendwo her – aus dem Villenviertel, aus Waldstücken, aus lauschigen Gärten – tönt deutsche Blechmusik, Militärmärsche. Das russische Offizierskorps feiert Gartenfest mit Saufgelage. Überall stampfen Russengäule in den gutgepflegten Blumengärten, von Fliegenschwärmen umgeben. Scheu hocken die Deutschen in ihren Wohnungen, voll Sorge, ob sie am anderen Tag noch drin sind.

Lauer Frühlingsabend – übermütige Siegerlaune – tiefstes Elend – alles nebeneinander. Nun entscheiden wir uns schnell zum Weiterwandern. Wir wollen endlich Ruhe und keine Überraschungen mehr. Wir wollen heim nach Sorau/Lausitz in Richtung Neiße.

Am Morgen des 8. Juni – im ersten Morgengrauen, brechen wir mit Conrad zum Bahnhof auf. Unser Karren quietscht und knarrt durch die stillen Straßen. Bis Radeberg bringt uns mit anderen Flüchtlingen die Bahn. Beim Ausladen unseres schweren Karrens aus dem Güterwagen läßt ein ungeschickter Bahnangestellter den Wagen auf Conrads Fuß knallen. Dabei wird seine ganze Hose mit aufgerissen. Ich gebe ihm meine Ersatzhose. Dann wandern wir los – die Landstraße entlang.

Viel Gesindel, hauptsächlich Polen, treibt sich auf den Straßen herum. Gegen Mittag rasten und kochen wir in einem Einzelhaus an der Straße; die Leute sind nett. Die Bauern haben in erster Selbsthilfe einen eigenen Wachtdienst für die Annäherung der Polenhorden eingerichtet. Vor Arnstorf liegen wir längere Zeit am Wegrand und unterhalten uns mit drei couragierten Mädchen, die, teils mit Russenautos, Wäsche aus ihrer schlesischen Heimat geholt haben, aber diese Fahrt nicht wiederholen möchten.

Doris läuft voraus, um Erkundigungen wegen des nächsten Zuges einzuholen, denn streckenweise besteht noch Bahnverkehr – allerdings nur mit Güterwagen. Ein Gewitter droht! Da bietet sich uns eine freundliche Einladung bei der Dentistin, Frau Schreiber, auch ihr Mann ist sehr nett. Wir müssen mit ihnen an ihrem Tisch sitzen und fühlen uns geborgen, während über uns das Gewitter tobt.

Als wir gerade schlafengegangen sind, kommt wieder eine Russenstreife. Haussuchung! „Haussuchung“ heißt immer „Plünderung“. Angeblich hat man bei einem Halbwüchsigen eine Pistole entdeckt. Nun wird der ganze Ort systematisch durchsucht – ergebnislos! Da Frau Schreiber bereits vielen Besatzern aus gestohlenen Uhren Goldzähne gemacht hat – sie sah dabei auch zu, wo sie blieb – Russen haben eine kindische Freude an Goldzähnen – sind die Leute einigermaßen friedlich. Schreibers haben keine Kinder und würden herzlich gern unseren kleinen Ingolf annehmen. Gut hätte es der kleine Kerl gewiß, und wer weiß, ob wir ihn weiter durchbringen. Doch wir können uns von dem Kerlchen nicht trennen, komme, was wolle! Allerdings geben wir einen größeren Teil unserer Sachen in Verwahrung, um unseren Wagen zu entlasten.

Wieder können wir etwa zwei Stationen mit der Bahn fahren, bis Großharthau. Sind wir am ersten Tag nur 5 km zu Fuß gelaufen, so werden es heute 8 km bis Bischofswerda. Kurz zuvor freunden wir uns mit zurückkehrenden Bischofswerdaer Flüchtlingen an, die uns zur Mittagspause in ihr Heim einladen. Ich kann meine Beinprothese einmal abschnallen und auf dem Sofa ausruhen. Dann wollen wir weiter, um noch einige Kilometer zu schaffen. Lange warte ich mit dem Kinderwagen an der Straßenecke. Dann kommt Doris alleine an: Unser Gepäckwagen ist kaputt. Conrad ist mit ihm fort zur Reparatur, die stundenlang dauert. Mutti hat Glück, in einem Laden bekommt sie etwas Milch. Ich selbst liege einstweilen in einer Anlage und ruhe neben dem Kinderwagen aus. Zur Seite ausgebrannte Häuser! Doris kommt zurück – neuer Schrecken: Karin ist verschwunden!! Wir suchen wohl eine Stunde lang, straßenweit und in verwilderten Gärten, schauen angstvoll in jeden wassergefüllten Bombentrichter. Der Hals ist uns wie zugeschnürt. Viele Einwohner helfen uns suchen.

Dann – endlich – können wir unsere zweijährige Tochter wieder im Empfang nehmen. Freudentränen laufen uns herunter! Karin war unbemerkt „Mutti hinterher gegangen“ und dann neben einer Frau her, munter plaudernd, immer weiter zu einem Platz, wo sie zu weinen anfing. Die Frau kam suchend mit ihr zurück.

Da wir durch diese Zwischenfälle viel Zeit verloren haben, lädt uns diese nette Frau Schmeißer in ihre Wohnung ein. Ein enges, aber gutes Nachtquartier. Zu meinem Leidwesen erfahre ich hier, daß mein Jugendfreund Ernst Fengler, der hier wohnte, als Soldat gefallen ist.

Am folgenden Tag, Sonntag, den 10. Juni, wandern wir frühmorgens um 7 Uhr los. An diesem Tag wollen wir 20 km bis Bautzen zurücklegen. Es wird ein saurer Marsch unter Keuchen, Schwitzen und Schmerzen bei so vielen Bergen, alle steil. Dazu die sengenden Sonnenstrahlen! Jeder Meter will errungen sein. Doris und Conrad ziehen den schweren Gepäckwagen, auf dem zeitweilig noch Sigrun sitzt. Ich stoße mich mit der linken Hand mit dem Krückstock ab und drücke mit der rechten Hand den Kinderwagen, mit Ingolf und Karin darauf sitzend, vorwärts. An den Seiten baumeln unsere „Töpfe“, links Nachtgeschirr und rechts der Kochtopf. Wenn es wieder steil bergauf geht, kommt die vorausfahrende Doris jedes Mal zurück und hilft mir.

Gegen Abend sind wir in Bautzen. Die Straße führt tief ins Spreetal hinunter und wieder steil hinauf zur Innenstadt. Russenkolonnen ziehen vorüber. Ein Flintenweib brüllt uns an. – Aber wieder leitet uns ein gütiges Geschick in die Äußere Lauenstraße zu Familie Seidler, Eisenwarenhandlung, mit denen uns hernach eine jahrelange Freundschaft verbindet. Mütterlich ist Frau Seidler um unser Wohlergehen besorgt. Es wird uns so warm ums abgehetzte Herz! Wie gut ruht es sich im Zimmer einer Untermieterin, einer Frau Verwörth, in den großen Betten.

Nach überaus herzlichem Abschied ziehen wir frohgemut in eine neue Woche, in einen sonnigen Tag, und heute werden 20 km Fußmarsch nicht mehr als so hart empfunden. An Hand einer alten Karte biegen wir hinter diesem arg zerstörten „norddeutschen Rotenburg“, das jetzt so viel Hunger leiden muß, links in eine Seitenstraße ab. Kein Gefährt treffen wir, das uns mal ein Stück mitnehmen könnte. Nach der Mittagsrast in einem Bauernhaus vermissen wir später unsere Milchkanne, die uns in der Folgezeit sehr fehlt.

Wir treffen alte Sorauer Bekannte, Eberhardt, mit dem ich vor Jahren in der Sparkasse zusammenarbeitete. Sie ziehen nach Westen. Spätnachmittags treffen wir auf haltende Leute – es sind Schallers aus unserem Nachbardorf Albrechtsdorf, die früher beim Vater das Brot kauften. Mit dabei ist die Tochter, Frau Weiß mit Kind. Wir freuen uns alle sehr – Landsleute – und bleiben die nächste Zeit beisammen. Wir wollen gemeinsam in die alte Heimat, von der wir nur noch sprechen. Nach mühsamen Märschen kommt auf einer Anhöhe unser gestecktes Tagesziel – das Städtchen Weißenberg – in Sicht. Hier wurde schwer gekämpft. Nachdem die Notbrücke im Tal – noch ohne Geländer – überschritten ist, ziehen wir in die Stadt hinauf. Doris holt vom Rathaus Flüchtlingsverpflegung. Wir finden Unterkunft bei der Bäckermeistersfrau Sommer an der Marktecke. Hier könnte Conrad gleich als Bäcker arbeiten, aber die Sorge treibt ihn nach Hause. Flüchtlinge ziehen ohne Unterlaß – teils nach Osten, wie wir – teils nach Westen. Widersprechende Nachrichten werden weitergegeben.

Am nächsten Morgen treffen wir Schallers wieder und ziehen gemeinsam über eine menschenleere Seitenstraße nach Oder-Gebelzig, was sich nachher als großer Umweg erweist. Russen laufen in allen Dörfern herum. Soldaten treiben uns eine große Viehherde entgegen, geraubtes Vieh aus den Dörfern, ab nach Sowjetrußland. Die Russen treiben es mitten durch das hoch im Halm stehende Getreide, das niedergetreten wird. Am Wegrand, wo sich der Weg am Waldrand gabelt, sitzen zwei Russen mit Gewehren, rufen uns an und brüllen gleich wütend los, weil wir nicht sofort vor ihnen erscheinen.

Unser in Geising ausgestellter Wisch erlaubt uns, weiter zu ziehen; ebenso ist Schallers Ausweis in Ordnung. Nur der arme Conrad wird festgehalten. Wir sehen ihn verzweifelt in Gras sitzen. Alle unsere Bitten und Versuche, ihm zu helfen, scheitern. Schweren Herzens lassen wir ihn zurück und müssen uns nun allein weiter schinden. Solch ein Abschied von dem allzeit Getreuen! – Wir haben es sehr schwer auf dem sandigen Weg. Rechts drüben am Waldrand ist ein größeres Truppen-Zeltlager aufgeschlagen.

Wir eilen ohne Rast weiter – aus solch gefährlicher Nähe. Da hören wir Rufe hinter uns! Freudigster Anblick! Conrad kommt hinter uns her. Der Posten hat ihn ins Dorf mitgenommen, der Kommandant ihn aber laufenlassen.

Regnerisches Wetter bricht nun herein. Gerade erreichen wir noch das erste Gehöft von Altmarkt, wo man und nach dem 14 km langen Marsch Nachtruhe und Milch für die Kinder bietet. Durch das lange Dorf kommen wir auf aufgeweichter, schlechter Straße weiter durch hohe Wälder. Kurz vor Niesky verläßt uns nun Conrad endgültig, er hat noch einen Kumpan getroffen. Sie gehen einen schmalen Waldweg zur rechten und wollen versuchen, über die nahe Neiße ins polnisch besetzte Niederschlesien zu kommen, wo sie noch ihre Familien anzutreffen hoffen. Wir haben nie wieder von ihm gehört, doch dankbar unvergessen bleibt uns diese treue Seele, dieser wahre Kamerad, unser Leben lang!

Reiter auf schweren Ackergäulen tauchen auf, polnische Banditen, Dolch und Revolver im Gürtel. Sie reiten finster vorüber. Wir wählen die Umgehungsstraße vor Niesky. Von einem am Weg liegenden Kinderwagen montiert Schaller die noch gut erhaltenen Räder für unseren Karren ab. Eine große Brücke über die Bahnschienen ist gesprengt, und wir müssen seitwärts auf sandigem Weg hinunter. Deutsche arbeiten unter Russenbewachung an der Wiederherstellung der Strecke. Der Posten hilft uns, den Kinderwagen über die Gleise zu tragen. Ein junger Kerl, Fremdarbeiter, überholt uns mit dem Fahrrad. Einige hundert Meter weiter in Wald tritt er uns plötzlich drohend mit dem Revolver in der Hand aus dem dichten Gebüsch entgegen. Mit einem Griff hat er Uhr samt Kette von dem bestürzten Schaller in der Hand und ist dann schnell verschwunden. Schnell ziehen wir weiter durch den dichten Wald. Vor dem nun einsetzenden Regen suchen wir uns eine Weile unter den dichten Bäumen zu schützen, aber er hört nicht auf, und wir müssen weiter. Im übernächsten Dorf Steinhufen müssen wir bei dem starken Regenguß in einem Häuschen untertreten. Nur einen Tagesmarsch nordwärts wären wir an der Neiße. In diesen Dörfern ist die Heimat der Vorfahren. Zwei Tagesmärsche bis Sorau!

Wir erfahren aber, daß die Neißegrenze fest gesperrt ist, und die Polen alle Flüchtlinge restlos ausplündern. So kurz vor Sorau müssen wir endgültig auf mein Kinder- und Jugendland verzichten …

Aber vielleicht wird die Grenze doch mal geöffnet, wie andere Gerüchte sagen? – Gegenüber auf der anderen Straßenseite ist eine Wohnung leer, zwei Zimmer und Küche. Da andere Hausbewohner, die aber Abstand halten, nichts einzuwenden haben, richten wird uns mit Schallers darin ein, nachdem wir den größten Dreck, den Polen hinterlassen haben, ausgeräumt haben. Draußen in den Gärten einige deutsche Soldatengräber. Weiter weg ein großen Polenfriedhof, von den Polen sind sehr viele hier gefallen.

Wir sind am 13. Juni angekommen und bleiben drei Wochen in diesem weltfernen Dorf inmitten großer Wälder. Lebensmittelkarten gibt es für uns nicht. Ernährungsmäßig erleben wir die schwersten Wochen voller Verzweiflung. Die Kinder bekommen wieder Durchfall, bei Ingolf brechen neue Zähnchen durch. Wir betteln uns Kartoffeln zusammen und durchsuchen selbst auch die Keller verlassener Häuser danach. Geriebene Kartoffeln, ohne Fett auf der heißen Herdplatte gebacken, sind die Hauptnahrung. Nun geht auch das Salz aus, da sind wir froh, etwas Viehsalz zum Würzen zu erhalten. Außerdem liefert uns der Wald schöne große Blaubeeren und auch manches Pilzgericht. Im Dorf liegt nur ein kleines Russenkommando, das uns öfter in die Quere kommt. Waffen und Munition liegen überall verstreut.

Es sind sehr heiße Tage. Polnische Truppen ziehen durchs Dorf. Im Nachbarort Kosel, wo der evangelische Pfarrer als Ortskommandant eingesetzt ist, erhält Doris einige Male Mich und Mehl, aber auch diese Wege sind gefährlich. Auf die Dauer kann es so nicht weiter gehen. Darum macht sich Doris in Begleitung der jungen Frau Schaller am 19. Juni auf und marschiert wieder auf Dresden zu, wo wir uns – lebensmittelmäßig – noch nicht abgemeldet hatten wegen des eiligen Aufbruchs. In schwerer Sorge bleibe ich mit den Kindern zurück. Wir wissen bald nicht mehr, wovon wir leben sollen. Die Kinder haben dauernd Hunger.

Schaller arbeitet nebenan in der Schmiede und bekommt etwas an Lebensmitteln. Ein Pferd muß notgeschlachtet werden, da fällt auch für uns ein Stück ab für Gulasch. Wir freuen uns auf den „Sonntagsbraten“. Aber die allergrößte Freude: Die Frauen kommen an diesem 24. Juli aus Dresden zurück! Wir sind glücklich! Doris bringt glückstrahlend Butter, Wurst und vor allem neun Brote in einem Sack mit. Ach, wie schmeckt das alles den Kindern. Es ist ein glücklicher Tag! (Von ihren schlimmen Erlebnissen erzählt Doris erst viel später).

Was gibt es alles von dieser Fahrt – teils mit Russenautos – zu erzählen. Abenteuer und Gefahren, zumal Frau Weiß etwas leichtsinnig ist. Tapfere, wagemutige Frauen konnten in diesen Tagen weit mehr als Männer erreichen, aber sie mußten auch besonnen und auf der Hut sein.

Nachts geht wieder ein Gewitter nieder! Am nächsten Tag durchsuchen Polen jedes Haus nach waffenfähigen Männern. Ich zeige mein Holzbein vor. Der Bürgermeister läßt bekanntgeben, daß Flüchtlinge nur 12 Stunden im Dorf bleiben dürfen. Wir kümmern uns nicht darum. Langsam schwindet jede Hoffnung, daß die Neißegrenze geöffnet wird.

So stehen wir an der Haustür zur Heimat! Doris will versuchen, über die Neiße nach Sorau zu gelangen, um nach unserem Vater und Verwandten zu sehen. Mit Frau Weiß zieht sie am regnerischen 27. Juni wieder los. Sie wollen versuchen, mit einem Russenauto dahin zu gelangen. Bei Sturm und Regen kommen tags darauf Flüchtlinge aus dem nördlich gelegenen Sommerfeld vorbei und sagen, daß Sorau völlig geräumt sei. Doris ist abends noch nicht zurück. Ich bin in schwerster Sorge. Endlich – am 29. Juni mittags ist sie da! Nach Sorau zu kommen, war ganz unmöglich. So sind sie wieder nach Dresden gefahren, hatten Glück mit Autos und wurden sogar bis vors Haus gefahren. Wieder bringt sie Brote mit. Die Freude ist groß! Doch das Allerschönste: Wir können nach Dresden-Klotzsche zurück Die Anmeldung ist perfekt. Die Kinder sind gesundheitlich wieder in Ordnung. Ingolf hat nun sechs Zähnchen. Wir suchen nochmals Blaubeeren. Bauer Ackermann repariert unsere Schuhe.

So ziehen wir am 4. Juli von Steinhufen aus zurück nach Dresden. Schaller will bis Bautzen mit uns kommen, um für die Seinen ein neues Quartier in der Oberlausitz zu suchen. Etwa einen Kilometer vor Niesky kommen uns vier Russen auf Fahrrädern entgegen, darunter ein Oberleutnant. Unter dem Vorwand, uns abgerissene Flüchtlinge nach Waffen durchsuchen zu müssen, plündern sie uns gründlich aus, reißen Koffer und Sack auf. Selbst der Säugling muß aus dem Schlaf gerissen werden, damit der Kinderwagen umgedreht werden kann. Was ihnen gefällt, nehmen sie mit, u. a. Tabaksdose, Parfümfläschchen usw. Am schlimmsten ist ein junger Bengel von etwa 15 Jahren in Uniform. Alle Bitten beim Oberleutnant sind vergeblich. Im Ort hören wir, daß solche Raubüberfälle der Besatzungsmacht hier an der Tagesordnung sind. Wie hieß es doch für uns deutsche Soldaten in fremdem Land? „Wer plündert, wird erschossen!“

Wir sehen auch überall längs der Straße zerrissene Koffer, beschmutzte Wäsche, Bitterkeit übermannt uns wieder. Doris will sich beim Ortskommandanten beschweren. Zivilisten sagen uns, daß das zwecklos sei. Erst muß man 4 – 5 Stunden warten und dann wird man als „Verleumder“ rausgeschmissen. Der Kommandant unterstützt die Plünderer.

Der frische Wind treibt Regenwolken heran. Gegen Mittag rasten wir in einem Dorf. Trotz Regenguß läßt uns der Bauer nicht mal im Hausflur untertreten. Doris zieht mit den Kindern los auf Milchsuche und hat auch Glück beim Ortsbauernführer. Ein Trupp Zivilisten kommt vorbei. Als Anführer erkenne ich meinen Vetter Rudi Lauschke aus Mellendorf, der Heimat meiner Mutter. Rudi sah ich seit Jahren nicht mehr. Er ist aus russischer Kriegsgefangenschaft entwischt und möchte am liebsten alle umlegen. Alle Mellendorfer und Groß-Petersdorfer (Heimat der Eltern) sind nur wenige Kilometer über die nahe Neiße geflüchtet. Rudis Mutter und Geschwister und auch der über 80jährige Petersdorfer Onkel Robert Briesen sitzen ohne Verpflegung im Elend in einem kleinen Heidedorf. Nun suchen die jungen Männer neues Unterkommen in der Görlitzer Gegend.

Nachmittags nimmt uns ein Bauer auf seinem Ackerwagen 5 km mit. Die Dörfer sind menschenleer. Soweit noch Bewohner da sind, sind sie scheu und verängstigt. Eine Kompanie ganz junger Russen kommt auf Fahrrädern vorüber. Flüchtlinge lagern und kochen im Wald. Sie sagen, vor uns liegen Banditen. 26 km legen wir an diesem Tag zurück.

Abends kommen wir in ein großes Dorf und finden nach einiger Mühe abseits ein sehr gutes Quartier. Die Leute sind mitfühlend und schenken uns zum Abschied eine Anzahl Flaschen Odol. Diese Dresdener Firma hatte schon seit Kriegsbeginn große Vorräte auf dem weiten Dachboden eines alten Schlosses im Nachbardorf eingelagert. Nun plündert die ganze Gegend diese Odol-Vorräte, weil da auch Alkohol dabei ist, und man vielseitige Verwendung dafür hat.

Weiter ziehen wir auf einsamer Straße. Aus großen, bereits geöffneten Kartoffelmieten holen wir uns kleine Vorräte. Gleich anderen Flüchtlingen schlagen wir auch kleine grüne Äpfel von den Bäumen an der Straße, um daraus Essig zu machen. Wenn sich die halbverhungerten Städter trotz Verbot selbst irgendwo Kartoffeln holen, nehmen ihnen russische Posten am Stadtrand alles wieder ab.

Da Bautzen schwer verteidigt wurde, müssen alle Einwohner zur Strafe hungern. Das ist sowjetische Menschlichkeit. Um 14 Uhr sind wir nach 18 km Marsch bereits in Bautzen und finden wieder überaus herzliche Aufnahme bei Seidlers und Frau Verwörth, wo auch Doris schon mehrfach auf ihren Dresden-Fahrten übernachtete. Für die Kinder haben sie schon Sachen bereitgelegt. Schaller verläßt uns hier. Unser Karren geht bei der Abfahrt entzwei, wir können uns aber einen Leiterwagen leihen. Ohne Schaller geht die Schinderei weiter – wir schaffen nur 10 km. In einem Wald pflückt Doris längere Zeit Himbeeren für die Kinder. Abends quälen wir uns in Spittwitz seitwärts aufs Gut zu, können aber nicht unterkommen. Dann finden wir trotz abweisendem Hausherrn doch bei Barbers Unterkommen. Frau und Sohn sind sehr nett. Am 7. Juli können wir nach einem kleinen Fußmarsch um 11 Uhr von Demitz aus die Bahn nach Klotzsche benutzen. Im Güterwagen lernen wir eine junge Frau aus Weinböhla kennen, durch die wir später einige Male Gemüse bekommen.

In Klotzsche besuchen wir zuerst Steuers. Doris hat nach längerer Unterkunftssuche endlich Glück. Gegen 20 Uhr ziehen wir in die Königsbrücker Str. 72 ein, in die Villa des Reichsbahnrates Groh. Wir haben ein feines Quartier, zwei Zimmer im 1. Stock, möbliert, Balkon auf den Waldgarten hinaus, Kochgelegenheit!

Nächster Tag – 8. Juli – richtige Sonntagstimmung für uns. Gefühl des Geborgenseins, wieder mal Mensch sein, allein, keine unmittelbare Bedrohung und Furcht, Stille ringsum. Grohs und Verwandte, Frau Dr. Schmidt, sind feine, gebildete Leute, manchmal aber auch kleinlich, übersensibel. Im Vergleich zu uns erlebten sie ja so gut wie nichts Besonders. Sie sitzen hinter hohem Gebüsch und hungern. Selbstbehaupten unter allen Umständen, das können und kennen sie nicht. Doch freunden wir uns an und helfen uns gegenseitig, müssen aber leise sein wegen der kranken Frau Dr. Schmidt. Doris und die Tochter des Hauses, Tine Groh, freunden sich besonders an. Tine ist ein recht praktisches resolutes Mädchen, Sängerin.

Ich suche in den nächsten Tagen meine Dresdener Cousinen auf. Familie Max Meyer hat Haus mit Gastwirtschaft beim Bombenangriff verloren; haben kleine Kellerwohnung in einer Villa im „Weißen Hirsch“ über der Elbe, wo Max den Garten in Ordnung halten muß. Bei Cousine Berta in Dohna wohnt ihre Pribusser Schwester Martha mit großer Familie. Trotzdem versorgt uns Berta mit etwas Teigwaren, Salz und Zucker. Auch Cousine Klara Hornig besuche ich in ihrem entzückend gelegenen Häuschen auf den Elbhöhen bei Meißen. Sie hat tückische und gemeine Flüchtlinge in der Wohnung, die sich alles erlauben. Klara hungert allein.

Am 11. Juli fährt Doris mit Frau Dr. Schmidt los in die Bautzener Gegend. Nach zwei Tagen bringen sie zwei Zentner Kartoffeln für drei Familien mit. Die Freude ist allseitig. Der Hunger groß! Einige Male fahren wir nach Weinböhla, Kirschen und Gemüse holen, auch für unsere Hausleute mit, die sich gar nicht zu helfen wissen. In Doris’ Abwesenheit muß ich nun öfter „zu Hause“ für Ordnung sorgen, Kinder füttern, kochen, Kinder trockenlegen, Windeln waschen usw. Klein-Ingolf ist lebhaft geworden, klettert dauernd, fällt aus dem Bett und aus dem Kinderwagen. Er ist nun elf Monate alt geworden und läuft schon einige Schritte am Kinderwagen und am Tisch entlang. Unser geliehenes Geschirr hat nur auf dem schmalen Fenstersims Platz – die Hausleute sind so penibel. Wenn die Kinder wieder etwas zerbrochen haben, setzt es Haue – so nervös sind wir schon geworden vor lauter Rücksichtnahme. Besondere Anordnungen ergehen an uns auch Betreff Mittagsruhe, Abortbenutzung usw. Einmal bin ich mit Frau Dr. Schmidt in Weinböhla zum Gemüseeinkauf, es ist drückend heiß. Abends und in der Nacht stellen sich bei der Frau Herzkrämpfe ein. Sofort eröffnet uns Frau Groh (am 17. 7.), wir müßten sofort das Haus verlassen. Wir sind empört und verbittert über solche Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit in unserer Lage mit den kleinen Kindern. Doch nach Aussprache renkt sich alles wieder ein. Ihren Bücherschrank muß ich von „verbotener Literatur“ säubern.

So feiern wir am 21 Juli den Geburtstag unserer lieben Mutti, die es trotz knapper Ernährung möglich macht, etwas Kuchen zu backen, nach dem die Kinder großes Verlangen haben. So schön wir auch wohnen, es ist eine schlimme Hungerzeit für uns! Unser Brotaufstrich wird aus Kaffeegrund mit Majoran und Milchpulver gemacht, schmeckt ähnlich wie Leberwurst für den Gaumen. Kinder von Nazis erhalten in Klotzsche keine Milch und keine Butter. Das geht uns ja nichts an! Wir sind glücklich, wenn es mal eine Gemüsezuteilung gibt, denn die „Kleinigkeiten“ aus Weinböhla hören ganz auf. Letzthin erhielt ich wenigstens noch eine Gurke und drei Tomaten, doch mußte ich jedes Mal in glühender Hitze weit laufen, da die Straßenbahn stilliegt. Kartoffelpuffer backen wir mit Lebertran, den Frau Dr. Schmidt unseren Kindern verschreibt.

Am 25. Juli fährt Doris allein nach Altdöbern, um nach unseren zurückgelassenen Sachen und den vergrabenen Koffern zu sehen. Sie fährt bis Ruhland, dann mit dem LKW bis Senftenberg, dann Fußmarsch. Unsere „guten alten Bekannten“ sind höchst unfreundlich, halbe Drohungen. Unsere Sachen sind restlos fort. Angeblich haben die Russen alles gefunden und geplündert. Dabei laufen die neuen Liebhaber von Illmerts Töchtern mit meinen Anzügen herum. Doris kann mit kühnem Griff noch ein Kindermäntelchen mitbringen, das Illmerts schon in Gebrauch hatten. Unsere Betten behielten sie auch.

Nur im Schuppen unter der Hobelbank lag noch unser Sparbuch, das wir beim eiligen Packen am 20. 4. unbemerkt verloren hatten. Darauf bekommen wir später unser Geld. Kuhleig arbeitet für die Russen. Altdöbern ist Kurort für geschlechtskranke Russen.

In Cottbus, wohin sich Doris wendet, erfährt sie, daß Vater und Schwägerin Ella mit Kindern in Sorau sind, also über der Neiße. Frau Schröter hat durch ihre Mutter Verbindung dorthin mit Hilfe eines polnischen Eisenbahners. Vergeblich versucht sie auch noch, über Jüterbog zu ihren Eltern nach Berlin-Mahlow zu kommen. Sie erlebt dabei eine „Zugausplünderung durch Banditen“ – Hilfeschreie und Schüsse in der Nacht, und das vor den Toren Berlins.

Sonntag, den 29. Juli ist unsere Mutti wieder bei uns, müde, abgespannt und enttäuscht. Von der Nachricht „Altdöbern“ sind wir alle recht niedergeschlagen. Es werden 100g Butter aufgerufen, worauf wir schon so lange warten. Aber die Kartenabschnitte sind verschwunden! Haben die Kinder damit gespielt, oder hat man sie uns bei einem anderen Einkauf „versehentlich“ mit abgeschnitten? Wir drehen in krampfhafter Erregung das Zimmer immer wieder um, alles vergeblich, die Butter bleibt uns verloren. Zucker ist auch ganz ausgegangen. Dazu hat ein graues, regnerisches Wetter eingesetzt – wir sind in verzweifelter Stimmung. Es kommt die Nachricht, daß die Versorgungsämter aufgelöst sind – es gibt keine Renten mehr. Auf unser vorgezeigtes Sparbuch erhalten wird kein Geld.

Die erste Augusthälfte ist eine schwere Zeit für uns. Da beschließe ich, selbst loszufahren – am 13. August. Mit Mühe und Not erhalte ich nach viel Bettelei im überfüllten Postwagen in der Ecke noch einen Stehplatz. Wir stehen alle Stundenlang Brust an Brust, torkeln gemeinsam in eine Richtung beim Schlingern des Zuges.

In der Kleinbahn hinter Falkenberg höre ich mich mit Namen angerufen. Das bringt in dieser üblen Zeit zuerst immer ein unangenehmes Gefühl hervor – doch ist dann die Freude groß! Es ist unser Schuhmacher Mattner aus Schwiebus.

Dessen Einladung nach Herzberg, wo er eine Werkstatt übernommen hat, folge ich gerne. Seine junge Frau bewirtet mich großartig mit Braten. Und das Schönste: Meister Mattner bringt meine abgerissenen Trittchen wieder in Ordnung – kostenlos dazu! Dort in Herzberg besuche ich auch Gensch-Züllichau (Fuhrgeschäft). Gleichzeitig am nächsten Morgen bringt mich Mattner zur Bahn. An der Elsterbrücke muß man nach Jüterbog nochmals umsteigen. Der letzte Zug nach Berlin fährt nur bis Langwitz; jeder muß an der Bahn entlang bis Südende laufen. Von dort besteht Anschluß mit der S-Bahn.

Ich besuche den Sohn meiner Priebusser Cousine Martha, Kurt Wünsche in Velten. Er gibt mir eine Flasche Öl. Anschließend will ich nicht weit davon meinen alten treuen Jugendfreund Ernst Nocke in Bärenklau bei Velten besuchen. Es ist abends gegen 20.30, im Sommer ja noch ganz hell, als ich ankomme. Da bin ich tief erschrocken über sein Aussehen und mehr noch über sein Verhalten. Er, einst wohlgenährter Erbhofbauer, war lange krank, ist nur noch Haut und Knochen. Seine Frau, trotz ihrer acht Kinder, mit einem Säugling an der Brust, wurde mehrfach von Russen vergewaltigt und ist danach geschlechtskrank geworden. Wenig später ist sie gestorben. Seine blühende Wirtschaft mit allem Vieh, Ackergerät, Werkzeug und Hausrat ist von Polen völlig ausgeplündert worden. Auch seine mehrfach vergrabenen Lebensmittel wurden alle gefunden. Auch mein großer Koffer mit Winterulster und Wäsche, den ich schon lange vor der Vertreibung bei ihm unterstellte, ist gestohlen. Ernst mit Familie wurde verjagt. Sie hausten tagelang im Wald. Jetzt bäckt er sich selbst etwas Brot. Mehl verschafft er sich, indem er Getreidekörner auf der Kaffeemühle mahlt.

Ernst starrt mich bei meinem Erscheinen groß und verängstigt an. Was mache ich nur mit dir? Jetzt ist es 20.45 – und 21 Uhr ist Sperrstunde. Ich müßte mich melden, aber der russische Kommandant wohnt wohl eine Stunde weit ab. Ohne dessen Einwilligung darf er mich nicht aufnehmen. Fast jede Nacht ist Hausdurchsuchung. Was tun? – Mit einem Stück trockenem Brot versteckt mich Ernst auf dem obersten Heuboden, indem er noch Bündel über mich wälzt. Ich soll ihn um Himmels willen nicht verraten, wenn ich entdeckt werden würde, sondern soll sagen, ich hätte mich eingeschlichen.

Im ersten Grau des Morgens schleiche ich mich aus dem Haus nach Velten zur Bahn. Über Spandau komme ich nach mehrfachem Umsteigen wieder nach Berlin, zu Frau Weise nach Halensee. Sie ist eine frühere Mitarbeiterin und muß heute für die Amis Kohlen abladen. Mein bei ihr im Keller abgestellter Koffer ist auch völlig ausgeplündert, bis auf einen verschmutzten Kopfkissenbezug, den ich mitnehme.

Nachmittags fahre ich von Lehrter Bahnhof weiter nach Rathenow und übernachte bei fremden Leuten in einer kleinen Villa. Unsere nach Rathenow ausgelagerte Schwiebusser Stadtsparkasse unterhält dort keinen Geschäftsverkehr mehr. Alle Konten sind gesperrt und damit alle unsere Ersparnisse weg.

Mit der Brandenburgischen Städtebahn fahre ich nun nach Brandenburg weiter. Dann muß ich durch die ganze Stadt zum „Staatsbahnhof“ laufen. Dort will man mir ohne Genehmigung der russischen Stadtkommandanten keine Fahrkarte verkaufen. Bis man eine Fahrgenehmigung erhält, vergehen aber zumeist einige Tage, sagt man. Ich bin ratlos – wovon soll ich leben? Schließlich gibt mir ein Mitfahrer eine alte Fahrkarte „zum Nachlösen“, und nur durch diese Schiebung kann ich weiterreisen.

Langsam, langsam, mit unzähligen Haltestationen – auch auf offener Strecke – fährt der überbesetzte Güterzug in den sinkenden Abend hinein nach Westen. Wieder Stehplatz und an die Wand gedrückt im Güterwagen. Dann wird es dunkel, und draußen geht ein Lärm los! Slawisch-polnisches und russisches Fluchen und Schreien, Brüllen, Betteln und Schreien, Pistolenknallen. Banditen, ausländische Zivilarbeiter von einst, plündern Wagen um Wagen aus und nehmen so manchem Flüchtling seinen letzten Koffer oder Pappkarton weg. Hauptsächlich suchen sie Schmucksachen. Das Weinen und Bitten verhärmter Frauen macht überhaupt keinen Eindruck auf diese entmenschten Bestien.

Mitreisende erzählen von unzähligen Morden auf gewissen Bahnstrecken rings um Berlin. Bis zu mir in meinen Winkel kommen sie nicht, ich habe ja auch nichts. Im einzigen Personenwagen, in der Zugmitte, sitzt die russische Zugwache. Sie greift nicht ein, macht im Gegenteil halbpart mit den Polen, wie wir später merken.

In später Nacht – es ist 2 Uhr – kommen wir mit vielstündiger Verspätung in Biederitz an der Albbrücke an; die Brücke nach Magdeburg ist gesprengt. Es ist längst Sperrstunde. Alle Reisenden müssen auf dem kleinen Bahnhof bleiben. Wir überlassen den Frauen mit Kleinkindern den nur stubengroßen Warteraum. Wir Männer, Zivilisten und alte Soldaten, hocken und legen uns in der Nachtkühle lang auf den Bahnsteig.

Jäh wird die Nachtstille von einem tierischen Schrei unterbrochen. Erschreckt fahren wir alle hoch. Betrunkene Russen und Banditen sind mit dem Rufe: „Deutsche raus“! in den Wartesaal eingedrungen und haben sofort auf die schlafenden Frauen und Kinder eingeschlagen. Wie die Wahnsinnigen dringen die Verstörten mit markerschütterndem Schrei durch Tür und Fenster. Und wir Männer stehen hilflos dabei, denn wer sich hier einmischt, für den sitzt die Kugel locker. Es wäre ja ein „Angriff auf die Besatzungsmacht“

Im spärlichen Licht des Wartesaals tauschen Banditen und Zugwache die Beutel, die man sich vorher aus dem langsam fahrenden Zug durch die Türen zugereicht hatte. Dann besteigen alle wieder den zurückfahrenden Zug, und das Geschäft beginnt von Neuem. – Endlos scheinen die paar Stunden.

Um 5 Uhr morgens stürzt alles hastig fort, im Geschwindschritt an marschierenden Russen vorbei, nach dem 7 km entfernten Magdeburg. Ich kann nicht so schnell, bin der Letzte mit meinem schmerzenden Bein, bin müde und hungrig.

Dann wieder Kampf um einen Platz im Versehrtenabteil, das für einen russischen Offizier mit seinem Liebchen gesperrt ist. Unter Schimpfen der Insassen wird ein anderes Abteil für Schwerbeschädigte freigemacht. Kaum sind wir drin, will uns ein einfacher russischer Soldat mit seinem Fahrrad rausschmeißen. Dolmetscher und Bahnhofswache müssen eingreifen, und wir bleiben.

In Stendal angekommen, besuche ich im Vorbeigehen die mir bekannte Druckerei Elsholz. Alles Druckmaterial, Matrizen usw. wurde beschlagnahmt. Sohn Werner ist noch in Gefangenschaft. Seine kleine Frau muß Strafarbeiten machen. Sie ist aber tapfer, da es allen Anständigen so geht.

Sehr gastfreundlich werde ich von meinem ehemaligen Chef, Herrn F. Krüger, aufgenommen; ganz prima verpflegt und einige Tage beherbergt. Wie wenig haben die Menschen hier – im Gegensatz zu uns – mitgemacht, und wie gut leben sie noch. Die verheiratete Tochter im Hause, die wohl auch um ihren Mann bangt, liegt fast den ganzen Tag im Bett, liest Romane und knabbert Süßigkeiten.

Doch Herr Krüger ist großzügig. Für meine Familie erhalte ich u. a. eine Flasche Öl, 10 Pfund Zucker, Schokolade usw. Ich bin überglücklich!

Hierher in die Altmark möchten wir übersiedeln. Ich versuche, Quartier zu erhalten; zuerst in dem kleinen Dorf Hassel, unweit der Elbe. Dort ist ein Gubener neuer Bürgermeister. Dieser will mir helfen. Bei Bauer Schildt wären zwei kleine Räume frei, die mal Stallung werden sollten. Ich versuche es auch noch in Goldbeck und Tangermünde, wo eine alte Sorauerin verheiratet ist.

Am 20. August erhalte ich vom Landratsamt Einweisung nach Hassel. Sogleich fahre ich mit meinem Lebensmittelschatz los, übernachte in Leipzig bei Verwandten und bin nach bummeliger Fahrt am 21. August wieder in Klotzsche.

Doris empfängt mich in großer Aufregung! Nach der neuesten „Behörden-Verordnung“ müssen alle Flüchtlinge innerhalb weniger Tage Dresden verlassen haben und sollen auch nicht in Sachsen bleiben.

Wohin sollen die Hunderttausende denn nun? Die Gepeinigten sind wieder abgeschreckt und verängstigt. Und während die übervollen Züge nach Thüringen und in die Provinz Sachsen fahren, kommen von dort bereits übervolle Züge zurück, weil man die Aufnahme verweigert. Es ist ein tolles Durcheinander.

Wir aber haben nun endlich ein festes Ziel! Nochmals besuche ich alle meine Cousinen, die alle an uns hängen, aber durch die Verhältnisse eigener Not nicht helfen können. Vielleicht kann mir bei der Übersiedelung jemand helfen. Für unseren lieben Vater, falls er noch herkommen sollte, lasse ich ein kleines Lebensmittelpäckchen bei Emma Meyer zurück. Doris hält nochmals große Wäsche.

Am 29. August, sehr früh am Morgen, verlassen wir Klotzsche. Der Abschied von Familie Groh ist sehr herzlich. Ritterlich küßt Herr Groh meiner tapferen Doris die Hand. Das soll eine Ehrung mit Dank sein: „Ohne Euch wären wir verhungert!“ Noch im Mondschein hilft uns Hans Steuer zum Bahnhof. Nur durch Bestechung kommen wir überhaupt auf den Bahnsteig, wo bereits Tausende auf den nächsten Zug warten. Dieser ist aber bereits seit Mitternacht überfüllt. Jeder Zug wird sofort – ohne Rücksicht auf den Nächsten – gestürmt; bis auf den letzten Pufferplatz, auch auf den Dächern sitzen viele.

Wir müssen uns gedulden! Erst um 17 Uhr erlangen wir einen Platz. Bis Leipzig Hauptbahnhof begleitet uns helfend meine Cousine Emma aus Dohna und kehrt dann zurück. Wir aber fahren voller Hoffnung nach Nordwesten in die Altmark, neuen Abenteuern entgegen.

29. August 1945. Es ist eine warme Sommernacht. Wir richten auf einem der Bahnsteige des Leipziger Hauptbahnhofes unser Nachtlager her. Am nächsten Vormittag bringt uns der Eilzug weiter, umsteigen in Magdeburg, und nachmittags sind wir dann in Stendal. Das Ziel ist wieder einmal ein „Strohhalm“. Doch mein ehemaliger Chef, Fritz Krüger, Lebensmittel-Großhandlung in der Altmark, nimmt uns freundlich auf. Seine Frau ist inzwischen verstorben; der Sohn und mein ehemaliger Gefährte Otto sind noch vermißt. Die eine Hälfte des Hauses, wo früher Tochter und Schwiegersohn wohnten, ist durch Bombenwurf zertrümmert. Wir finden ein Matratzenlager in einem kahlen Zimmer und werden versorgt. Die Kinder sind wohlauf in der neuen Umgebung.

Da wir hier auf Dauer nicht bleiben können, fahre ich gleich am nächsten Tag mit der Kleinbahn in Richtung Elbe, ins Dorf Hassel. Dort weist mir Bürgermeister Menke eine Wohnung bei Bauer Schildt an. Es ist eine frühere Landarbeiterwohnung, die dann als Stall gedacht war und nun neu geweißelt ist. Die Stubendielen sind ausgebessert, es ist ein Grudeofen vorhanden, dazu zwei Bettstellen, ein Tisch und vier Stühle, ein Küchenschränkchen und ein Kleiderschrank. Ich erhalte gleich Lebensmittelkarten und kann ¾ Pfund Butter einkaufen. Es ist September geworden. Doris hilft bei Krügers im Haushalt, wir bekommen gute Verpflegung, unsere Kinder spielen unbekümmert mit Krügers Enkelchen. Frau Handelmann, die Tochter wohnt nach Ausbombung in Vaters Haushalt. Aus alten, herumliegenden Brettern versuche ich, Nägel herauszuziehen. Und dann gibt es auch eine „gute Tante“ Herzberg, die uns mit Geschirr versorgt.

Am 3. September geht sie mit uns zum Ostbahnhof, und wir fahren zusammen nach Hassel zur Wohnungsbesichtigung. Endlich, am 9. September, ist es dann soweit, daß wir übersiedeln können. Zuerst große Wohnungssäuberung, Gardinen anbringen; ich zimmere einen Küchenrahmen. Wir sind glücklich! Bald gehen wir in den nahen Wald und sammeln Pilze. Maronen gibt es viele in diesem Jahr, und diese Gerichte bereichern unseren Küchenzettel. Um Feuerholz zu haben, säge ich im Wald eine große Birke um, die wir zerkleinert nach Hause bringen. Am ungewohnten Grudeofen holt sich Doris einen schweren Bronchialkatarrh.

Zwischendurch fahre ich immer wieder einmal nach Stendal und hole unsere Zigarettenzuteilung ab. Und als ich einmal weiterfahre nach Arneburg, um Gurken zu kaufen, habe ich das Glück, auf hamsternde Berliner zu treffen, die mir für die 24er Packung Zigaretten RM 120,- bezahlen. Darüber herrscht große Freude in der ganzen Familie.

Die Fenster werden verkittet. Wir bekommen elektrische Leitung gelegt. Die Tage sind ausgefüllt mit Pilze Sammeln und Brennholz herbeischaffen. Einkauf von Lebensmitteln und Zigaretten erledigen wir immer in Stendal. Da muß man aufpassen, denn wenn sich vor Öffnung der Läden Menschenschlangen bilden, kommen mitunter Russen mit LKWs, und alle Wartenden werden 10 – 15 km hinausgefahren und müssen zurücklaufen.

Wir erhalten Bezugsscheine für einen Strohsack, eine Kinderbettstelle und eine neue Fensterscheibe. Bürgermeister Menge tritt an mich heran, ich soll das Bürgermeisteramt übernehmen. Trotz allem Drängen lehne ich ab, es ist keine Freude, in diesem Amt die Verpflegung der Russen bei den Bauern zu requirieren. Unsere Miete wird auf RM 6,- festgelegt. Bald erhalten wir Paßbilder und Kennkarte. Damit fährt Doris nochmals zurück nach Klotzsche zu Grohs. Sie bleibt in Leipzig über Nacht und lernt dabei alle meine Leipziger Briesen-Verwandten kennen.

Es wird regnerisch kalt. Der Pilzreichtum läßt nach. Ich wirtschafte mit den drei Kindern allein, hacke Holz, koche, wasche Windeln usw. Am 30. 9. kommt Doris zurück mit Geld und Kleidungsstücken. Sie war auch in Dresden und Bautzen. Die Kinder freuen sich über mitgebrachte Spielsachen von Tine Groh. Herr Krüger versorgt uns zusätzlich so gut er kann. An Frau Herzberg können wir für Geschirr RM 50,- abzahlen. Es gibt neue Lebensmittelkarten.

Aus Leipzig brachte mir Doris einen Brief mit von Bruder Hans, den er dorthin an mich gerichtet hatte. Der Brief war in Dedeleben mit kurzem Kommentar aufgegeben worden. Es mußte also jemand dort sein, der mit Hans Verbindung hatte. So trat ich am 5. Oktober eine Fahrt mit der Bummelbahn bis Endstation Dedeleben an. Ich fragte mich zu dem bekannt gewordenen Namen durch. Die Leute waren unfreundlich und ablehnend, zudem sehr ängstlich, denn das Haus war voller Russen, die verpflegt sein wollten. Nach langer Zeit konnte ich nur erfahren, daß die Tochter des Hauses auf der Suche nach ihrem Verlobten auf Schleichwegen über der nahen Zonengrenze war und den Brief von drüben mitbrachte. Ich wußte also nur, daß mein Bruder lebte. Die Nacht verbrachte ich im stehengebliebenen Leerzug, und am nächsten Nachmittag war ich wieder bei meinen Lieben.

Unter dem 9. Oktober vermerkte ich in meinem Tagebuch, daß wir bei aller Sorge und Leid an unserem kleinen Sohn Ingolf so große Freude haben, und daß er an diesem Tag die ersten selbständigen Gehversuche machte.

Wir konnten nicht ahnen, daß am gleichen Tag in der fernen Heimat Sorau unser über alles geliebter 74jähriger Vater, der unter polnischer Besatzung in sein Haus zurückgekehrt war, durch die harten Maßnahmen der Polen einen schweren Tod fand. Und viel später war es wiederum ein 9. Oktober, an dem 1962 mein einziger lieber Bruder Hans in Schöningen an einer tückischen Krankheit verstarb.

Doris machte große Wäsche. Ich fragte beim Bürgermeister wegen Wohlfahrtsunterstützung nach. Von der Hauptfürsorgestelle in Stendal erhalte ich einen einmaligen Zuschuß von RM 100,-. Es ist grau, regnerisch und kühl geworden. Eine herbeigeholte Katze fängt im Küchenschrank eine Maus. Bauer Schildt verkauft uns für RM 9,- einen Zentner Mohrrüben. Immer wieder hole ich Holz im Wald. Er gibt auch wieder Pilze. Wir essen an fünf Tagen hintereinander Maronen. Als wir einmal, weil er wackelt, den kleinen Küchenschrank beiseite rücken, entdecken wir dahinter eine kleine Tür, die unverschlossen ist. Wir lugen ins Halbdunkel und sehen da lange Reihen Wurst und Speckseiten an Stangen baumeln. Welcher Duft! – Wir haben immer Hunger, gewiß – aber stehlen? – Leise schließen wir die Tür und rücken den Schrank davor.

Im Dorf wurden wir mit einem ebenfalls evakuierten Ehepaar Schiller bekannter und besuchen uns gegenseitig, d. h., wir sind mehr dort in deren schöner Wohnung. Oft sammeln wir zusammen Pilze und können offen reden. Frau Schiller ist besonders couragiert. Mit Hilfe einer Kartoffel hat sie Stempel auf „Entlassungspapieren versprengter Soldaten“ gefälscht, um deutschen Soldaten zu helfen. Einmal, als wir im Wald sind, erschrecken wir doch, als plötzlich zwei russische Soldaten mit Gewehren aus dem Gebüsch treten. Aber sie beachten uns nicht; sie sind beim Wildern. Einmal verspäte ich mich wegen einer falsch gehenden Uhr abends bei Schillers. Die Sperrstunde ist schon da, die Straße ist menschenleer, und da kommt auch schon die russische Patrouille. Ich drücke mich in den Schatten des Hoftors, das verschlossen ist. Schon haben sie mich entdeckt, fassen mich an: „Komm mit in Keller“. Im gleichen Augenblick hat Doris von innen aufgeschlossen, und ich kann gerade noch entkommen.

Am 18. Oktober 1945 fahre ich – ich habe ja die ganze Zeit mein Holzbein getragen – zur orthopädischen Versorgung nach Magdeburg und zum Orthopäden Sudenburg. Weiterfahrt nach Leipzig, wo ich nachts ankomme und die Nacht im Notlager im Bunker des Hauptbahnhofs verbringe. Bei Onkel Gustav habe ich mich vormittags ausgeschlafen, hole mir dann eine Bescheinigung zur Weiterfahrt und habe auch alte Hausbewohner Bartkes gesprochen. Abends bin ich dann bei Cousine Lina, die in einer Laubenkolonie die Kantine hat. Es wird ein schöner Abend im Kreise der zahlreichen Leipziger Vettern und Cousinen. Dann fahre ich weiter nach Herzberg, wo ich mir eine Schuhreparatur von Heimatfreund Mattner erhoffe; er liegt jedoch mit Typhus im Krankenhaus. Es gelingt mir, mit einem LKW nach Halle zu kommen und dann durch günstige Umstände zurück nach Hassel. Über Hans erfuhr ich in Leipzig, daß mein Bruder jenseits der Zonengrenze bei Salzgitter in einem Lager der Engländer interniert sei.

Mit zunehmend langen Abenden hören wir immer von Übergriffen und Plünderungen der Russen. Frauen und Mädchen sind gefährdet. Vergewaltigungen sind vorgekommen. Doris hat nun keine Ruhe mehr. Wir hören von Möglichkeiten, über die Grenze zu kommen. Kurz entschlossen, packen wir alles Tragbare zusammen, nochmals große Wäsche vorher. In Stendal verabschieden wir uns auch bei Krügers, von denen wir noch einen Beutel des begehrten Zuckers erhalten. Zwei volle Monate lebten wir hier in der Altmark auf unserer langen Irrfahrt.

Am 29. Oktober bringt uns Bauer Schildt – wir lebten stets in gutem Einvernehmen in Hassel, wenn sie auch Abstand wahrten – frühmorgens zum Bahnhof in Stendal. Hier halten stets leere englische Kohlenzüge von Berlin, um Wasser zu tanken. Das ist bekannt geworden und wird als einzige Chance angesehen. Mehrere Male versuchen wir vergeblich, eine Wagentür aufzuschieben. Immer wieder treiben uns die bewachenden Engländer zurück und geben scharfe Schüsse ab. Tagsüber warten wir, und als es schon dunkel wird, gelingt es uns und anderen Wartenden, schnell die Tür eines offenen Güterwagens aufzustoßen.

Rasch sind ca. 20 Personen hineingeschlüpft in den Kohlendreck – Tür zu – wir kauern uns eng zusammen, schweigsam, regungslos. Der kleine Ingolf schläft fest vor Ermüdung in seinem Kinderwagen. Erleichtert spüren wir dann das Anfahren. Viel zu langsam geht es uns – immer wieder halten wir. Auf einmal hören wir an der Außenwand schwere Tritte. Dann taucht überm Wagenrad eine Gestalt auf, leuchtet uns langsam mit der Taschenlampe ab und ruft: „Uhren, Uhren, Schmuck …“ Keiner rührt sich. Da sagt der englische Soldat in gebrochenem Deutsch: „Gutt, ihr wollt nicht, ich euch den Russen melden.“ Lähmendes Entsetzen und Warten. Der Zug fährt weiter. Beim nächsten Halt erscheinen mehrere englische Soldaten und fragen nach einem Dolmetscher. Ein Mädchen antwortet in Englisch. Sie wollen wissen, ob hier ein englischer Soldat, der soeben festgenommen worden sei, geplündert hätte?

Langsam, langsam nähern wir uns der Zonengrenze. Jeder lauscht angestrengt nach draußen, alles ist mucksmäuschenstill. Von draußen hören wir englische und russische Wortfetzen. In dieser kritischen Situation wird unser keiner Ingolf wach und fängt laut an zu schreien. Angstvoll denkt jeder: Jetzt ist alles aus, sie holen uns heraus und bringen uns zurück. Verzweifelt versuchen wir, unseren kleinen Sohn zu beruhigen. Entweder sind alle verschlafen oder zu faul, weil sie auch um diese nächtliche heimliche Fracht wissen. Die Abfertigung geht mit Geschrei weiter, dann rollen wir wieder. Endlich – unendlich erleichtert – passieren wir gegen 22.30 die Zonengrenze bei Oebisfelde und steigen aus vor dem Auffanglager.

Es hat schon seit Stunden leise geregnet in unsere offene Kohlenlore – eine graue, neblige Nacht – unsere Kleidung ist arg verschmutzt. Aber was macht das jetzt schon aus! In Vorsfelde gibt es eine wohltuende warme Verpflegung. Dann bekommt jeder eine Ladung „Läusepulver“ unters Hemd gespitzt und schließlich einen englischen Registrierschein.

Morgens fahren wir weiter in Richtung Hannover. Unseren Gepäckwagen haben wir an der Gepäckannahme aufgegeben. Bei der Weiterfahrt in Richtung Kassel gibt es Aufenthalt durch die Kontrolle an der englisch-amerikanischen Zonengrenze in Eichenberg.

Abends sind wir in Kassel und werden um 23 Uhr durch das „Rote Kreuz“ verpflegt. Am nächsten Mittag – es gibt unterwegs immer lange Wartezeiten sind wir in Frankfurt/Main und müssen quer durch die Stadt vom Süd-zum Ostbahnhof marschieren, – 15 00 Uhr Weiterfahrt bis Ladenburg und dort in Nebel und Dunkelheit mit der Fähre über den Neckar (alle Brücken gesprengt). Weiterfahrt um 21 Uhr mit der OEG (Straßenbahn nach Heidelberg). Morgens am 1. November finden wir Aufnahme und Ruhe von langer Fahrt bei Doris Verwandten Zwilling-Klinger in der Dreikönigstrasse. – Die Heidelberger haben keine Bombenangriffe erlebt und vom Krieg wenig verspürt, Schonung durch die Amerikaner. Entsprechend pingelig sind die Einwohner, die von unseren Schrecken und Not nicht die mindeste Ahnung haben. Beim Amt für freiwillige Evakuierung hole ich Auskunft ein. Am folgenden Sonntag, es ist ein herrlicher sonniger Vormittag, fahre ich mit Sigrun und Karin in der Bergbahn hinauf zum Heidelberger Schloß. Nachmittags höre ich ein Requiem in der Jesuitenkirche.

Es besteht Anweisung, daß alle Flüchtlinge Heidelberg verlassen müssen; darum suche ich mir in der mir so unbekannten Gegend anhand einer Landkarte den „Eisenbahnknotenpunkt Neckarelz“ aus und bekomme Einweisung dorthin.

Das Einsteigen in die hohen Güterwagen mit meinem Holzbein fällt mir schwer. Es gab ja zum Personenverkehr nur Güterwagen mit Holzbänken. Doch ich komme bis Endstation Obrigheim und marschiere an diesem Tage etwa 18 km, erst nach Neckarelz dann zu den Bürgermeistereien Diedesheim, Obrigheim, Asbach und Mörtelstein, Daudenzell. – Alle Bürgermeister sind ja neu eingesetzt, sind sehr ängstlich, handeln nur nach Anweisung der Besatzungsmacht – so finde ich überall nur Ablehnung auf Zuweisung einer Wohnung für die Familie. Nur beim Bürgermeister Heiss in Mörtelstein finde ich eine halbe Möglichkeit.- So stelle ich nach Rückkehr bei dem damaligen kommunistischem Stadtrat Bock/Heidelberg neuen Antrag auf Überweisung nach Mörtelstein.

Am 9. November 1945 rüsten wir uns mit Doris zu gemeinsamer Fahrt nach Mörtelstein. Der kommunistische Bürgermeister Heiss verlangt von uns schriftliche Einweisung durch den Landrat in Mosbach. In strömendem Regen marschieren wir zu Fuß nach dem 14 km entfernten Mosbach und zurück. Aber auch der ebenfalls kommunistische Landrat Dr. Dörzbacher weigert sich, Einweisung und Unterschrift zu geben, da alle Dörfer der Umgebung für angemeldete Ungarndeutsche reserviert bleiben müssen. Immer wieder stellen wir dem Landrat unsere schweren Verhältnisse vor. Schließlich läßt er durch seine Vorzimmerdame einen Stempel unter das Formular setzen, Unterschrift gibt er nicht. In Mörtelstein täuschen wir damit dem Bürgermeister unsere Einweisung vor, und so bekommen wir nach fast 10monatigem Umherirren endlich wieder ein festes Domizil. Wilhelm Heiss will uns etwas Besonderes antun und bringt uns zum Quartier bei alten, kinderlosen Eheleuten Philipp und Luise Bitz. – (Da wissen wir noch nicht, daß unsere Leidenszeit bei diesen fast sadistischen Menschen noch lange nicht zu Ende ist.) Wir bekommen ein Zimmer im 1. Stock des Einfamilienhauses, dazu ein als Bad vorgesehenes kleines Zimmer mit abgeschrägtem Dach als Küche. Wenn wir aufs Klo wollen, müssen wir bei den Wirtsleuten unten durch die Küche.

Am 12.November fahre ich frühmorgens um 5.27 Uhr mit Sigrun ab Heidelberg voraus nach Mörtelstein, Doris mit Karin und Ingolf folgen nachmittags. Vom Bürgermeister erhalten wir nach der Anmeldung Lebensmittelkarten und Anweisung auf 1 Ster Holz. Bitzes geben uns 3-4 Stückchen Holz, damit wir uns bei dem Novemberwetter eine warme Stube machen können. In den nächsten Tagen durchstreifen wir den Bergwald und sammeln Brennholz. – Schon am 15. Nov. erhalten wir ersten Besuch: Frau Pfarrer Allinger/Binau bringt uns einen Korb voll Äpfel und Kraut. Bei Stellmacher Engert kaufen wir 13 Ztr. Kartoffeln à RM 3,75 und zahlen samt Anfuhr RM 45,50. – Den für RM 11, – gekauften Ster Holz holt uns Reinmuth umsonst, und Büche sägt ihn für RM 3,-.

Die Familie ist schließlich in Mörtelstein, heute Gemeinde Obrigheim (Baden) untergekommen.

Es sind schöne, aber kalte Mondnächte. Die Öfen werden umgesetzt. In der Küche fangen wir eine Maus, denn gleich nebenan ist eine Dachkammer. Unser kleiner Ingolf ist sehr unruhig, weint viel, bekommt die Backenzähne.

Wir sind in Unruhe, denn der Wagen mit unserem Gepäck ist noch immer nicht angekommen. Da fährt Doris am 19. los nach Heidelberg und weiter nach Ladenburg, Mannheim, Frankfurt, und kehrt am nächsten Tag verzweifelt und erschöpft ergebnislos zurück. Nur bei ihrer alten Freundin in Heidelberg hat sie eine Trainingshose bekommen. Dann bin ich mit den beiden Mädchen wieder zum Holzsammeln im Wald. Mittagessen bringt mir Doris hinauf.

Am 22. November sind wir bei Pfarrers zur Kaffeestunde eingeladen – ein sorglos schöner Nachmittag. An diesem Tag sind wir zum ersten Mal mit der Fähre über den Neckar gefahren. Unsere Kinder erhalten dort ein schönes Märchenbuch mit bunten Bildern, von dem noch jahrelang von „Pfarrers Buch“ gesprochen wird.

Wieder müssen Gemeinde-Fragebogen ausgefüllt werden. Sigrun liegt krank im Bett. Am Sonntag gemeinsamer Kirchgang mit Bitzes. Da Doris „große Wäsche“ macht, fahre ich am 27. 11. zum Versorgungsamt nach Heidelberg. Bei der Familie meines vermißten ehemaligen Sorauer Jugendfreundes Erich Mehl in Oftersheim (Erich kehrte nie wieder) bekomme ich aus der Gärtnerei etwas Gemüse. Doch die größte Freude: Unser Gepäckwagen ist nun doch in Heidelberg angekommen! Nach Übernachtung bei Tante Paula (Dorisʼ entfernten Verwandten Zwilling in Heidelberg) ist dann große Freude in der Familie. Doris bäckt Plätzchen.

Neue Pläne. Meine tapfere Doris leiht sich beim Schmied einen Handwagen und macht sich auf den Weg nach Hassel. Für die Hinfahrt benötigt sie allein fünf Tage.

Sie berichtet: Wir sind nach monatelanger Irrfahrt noch keine drei Wochen mit festem Wohnsitz in Mörtelstein, da fahre ich schon wieder los aus dem Drange, von dem Wenigen, das uns verblieb, soviel wie möglich zu retten. Es gelingt mir, bei Schmied Bernhard einen Handwagen auszuleihen. Daß ich damit über die Zonengrenze will, kommt diesen Leuten gar nicht ins Bewußtsein.

Mit Güterwagen der Eisenbahn – andere Zivilbeförderung gab es ja nicht, da die Besatzungsmächte alle Personenwagen requiriert hatten – fahre ich über Heidelberg, Frankfurt und Kassel tagelang Richtung Alversdorf an der Zonengrenze zu Schwager Hans, dessen Anschrift wir erhielten. Hans hatte sich als Angehöriger des Volkssturms mit anderen Kameraden durch die russischen Linien über die Elbe durchgeschlagen, wo er in Salzgitter von den Engländern interniert wurde und in Alversleben in den mitteldeutschen Kohlenwerken als Heizer im Maschinenhaus tätig war. Dort blieb er auch nach seiner Entlassung; war in einer Baracke mit großem Schlafraum untergebracht. Von seiner Familie im Osten wußte er noch nichts.

In diesem großen Männerschlafraum konnte ich erst einmal ausschlafen. Alle waren sehr rücksichtsvoll, und besonders Schwager Hans war sehr um mich besorgt. In Zeiten größter Not standen alle Geplagten viel näher beisammen in gegenseitiger Hilfsbereitschaft als später in der Wohlstandsgesellschaft. Das erlebten wir immer wieder. Hans war in Sorge wegen meines Vorhabens, doch ich beharrte auf meinem Willen: Ich muß „nach drüben“.

Mitten durch diesen weiträumigen Braunkohletagebau der früheren Hermann-Göring-Werke verlief die Grenze, jedoch die kleine Betriebsbahn fuhr noch hin und her. Hans kannte die Lokführer, und so kroch ich denn zu bestimmter Stunde in einen kleinen Kohlentender, wie sie sich auf beiden Seiten der Lokomotive befanden. Darüber kam eine Abdeckung, und darauf wurden Braunkohlen geschüttet. Langsam dampfte das Bähnle ab. Nach einiger Zeit hörte ich unter meinen Kohlen das „Stoi, Stoi“ – das Herz schlug mir fast bis zum Halse. Doch wurde weder ich noch hinten im Zug der Leiterwagen entdeckt. Im Grubengelände auf der anderen Seite kam ich ungesehen wieder heraus und zog weiter.

Bald jedoch griff mich eine russische Streife auf, und ich mußte mit. In einem Haus saßen schon andere schweigsame Frauen bei der Küchenarbeit, und ich mußte helfen, Kartoffeln schälen. Nach einigen Stunden ließ man mich wieder laufen, und von einer Bahnstation kam ich wohlbehalten zuerst nach Stendal.

Bei Krügers wurde ich wieder gut verpflegt und nahm von dort auch ein Päckchen mit, das ich im Westen aufgeben sollte.

In Hassel, wo ich nach bisher fünftägiger Reise ankam, verstaute ich die Kinderbettstelle und unser bei Bauer Schildt zurück gebliebenes Geschirr auf meinem Handwagen und trat baldmöglichst die Rückreise an. Es war unerwartet tiefer Winter geworden, viel Schnee und klirrender Frost, und ich hatte nur einen dünnen Seidenschal um den Kopf.

So kam ich abends mit einer Kleinbahn bis zur letzten Station vor der Zonengrenze und wußte zunächst nicht, wie ich weiterkommen sollte. In der Wartehalle wurde ich mit zwei Danziger Mädchen bekannt, die auch über die Grenze wollten. Wir zogen dann gemeinsam los – immer auf oder neben den verschneiten Bahngeleisen. Die Mädchen hatten ihr Gepäck mit aufgeladen, und wir schoben oder zogen zu dritt den Wagen. Die Frostnacht war grau, doch sternenklar etwas erhellt. Voller Angst zogen wir in die Finsternis. Immer wieder glaubten wir, vor uns einen Posten mit Gewehr zu sehen, doch beim Näherkommen erkannten wir dann einen Pfahl oder Baum. In steter Spannung und Furcht zogen wir der Zonengrenze zu. Einmal mußten wir den Bahndamm verlassen, weil eine kleine Brücke gesprengt war, und quälten uns durch ein tiefes zugefrorenes Bachbett auf der anderen Seite wieder hinauf. Anscheinend blieben die russischen Posten bei der kalten Nacht lieber in ihren warmen Unterkünften, was uns zustatten kam.

Endlich graute im Osten langsam der Morgen. Ein rosiger Schein legte sich auf die Schneefelder. Und da merkten wir an einem Schild bald, daß wir die Zonengrenze schon glücklich hinter uns hatten. Weinend vor Freude fielen wir uns gegenseitig um den Hals!

Ich schlug mich mit dem Handwagen wieder nach Alversdorf zu Schwager Hans durch, wo ich mich erst einmal aufwärmen und ausruhen konnte. Dann trat ich die Heimreise nach Mörtelstein an, wo ich nach elftägiger Reise am 10. Dezember wieder ankam. Ich war sehr stark erkältet und mußte fast bis Weihnachten mit großen Schmerzen, furchtbarem Nervenreißen auf der linken Kopfseite und über 39 Grad Fieber im Bett bleiben.

Nun waren wir in der „Amerikanischen Zone“ und dachten auch mit einer gewissen Bitterkeit daran, daß es gerade die Amis waren – zu einem hohen Prozentsatz deutschstämmig – deren spätes Eingreifen mit jeweils unverbrauchten Kräften und hohem Materialeinsatz – in zwei gewaltigen Weltkriegen die Entscheidung über Deutschland gebracht hatten. Die von einer fürsorglichen deutschen Regierung – in Erinnerung an die Hungerblockade des ersten Weltkriegs – gehorteten Lebensmittel wurden von der Besatzungsmacht beschlagnahmt.

Anders waren die uneigennützigen späteren Quaker-Care-Pakete Lieferungen aus Menschenliebe. Wie uns schon in Fluchttagen ein Russe sagte: „Deutschland nicht totmachen – aber hungern, hungern, hungern!“ Der Hunger in diesen ersten Nachkriegsjahren war unbeschreiblich. Damit wurde der letzte seelische Widerstand gebrochen. Mit dem Ruf „Vorwärts, Soldaten Christi“ waren sie ja gegen uns in den Krieg gezogen. So manches Mädchen, so manche Frau erkaufte sich eine Mahlzeit schon um ein paar Zigaretten Lohn, wenn sie mit einem Ami ins Bett ging.

In Heidelberg, so wurde uns berichtet, wurden amerikanische Feldküchen von hungernden Frauen und Mädchen umlagert. Aber die Restspeisen wurden vor deren Augen in den Dreck geschüttet – so war es Befehl.

In einer der erscheinenden Lizenzzeitungen las ich, daß allein die von Amis beschlagnahmten Patente einen Wert von weit über 100 Milliarden Dollar besessen hätten. Auch das gesamte Forschungsmaterial aus Peenemünde, das in einem langen Güterzug unter großen Schwierigkeiten bis an die Zonengrenze gebracht worden war, wies ein überheblicher Ami-Offizier mit den Worten ab: „Schafft das zu den Russen!“ Das geschah dann auch. Viel später wurden die Amis zu Hunderten von Milliarden Dollars Rüstungsausgaben gezwungen.

Nach Mörtelstein fuhren immer wieder Autos der Besatzungsmacht, und jeder mußte befürchten, aufgrund irgendwelcher Denunziationen abgeholt zu werden.

Kleine Ortskassierer für die wohltätige NSV kamen jahrelang hinter Stacheldraht, z. B. Schuhmacher-Stadler, Mörtelstein. Oft wilderten die Amis in den Wäldern, und dann pfiffen die Kugeln über das Dorf hinweg. Freilich war auch der Wildschaden in diesen Jahren sehr groß, da es keine Jagdgewehre für Zivilisten gab, und sich das Schwarzwild stark vermehrte.

Doch vorerst war in uns das ungeheure Glücksgefühl, nach soviel Not und Angst vorm Verhungern doch überlebt zu haben; unsere Kinder, wohl abgemagert, doch sonst wohlauf, um uns zu haben in neuer bescheidener fester Heimat.

Der Dezember ist angebrochen, starker Schneefall setzt ein, ich bin allein mit den drei Kindern. Kälteeinbruch, und nach Regen und Schnee gibt es Glatteis. Für den Nikolaustag hatte Doris vor ihrer Abreise noch vorgesorgt. Nachmittags bringt Frau Pfarrer Äpfel, Plätzchen und einen Adventskranz mit vier Kerzen. Einkaufen, Sigrun geht mit nach Obrigheim, große Zugverspätung.

Und ich warte traurig und voller Unruhe und Angst auf meine Doris. Endlich kommt sie am 10. Dezember mit Gepäck, aber müde und stark erkältet zurück. Alle sind erleichtert. Von Bruder Hans bringt sie einen Brief mit – über Schröters in Cottbus. Abends – unter Schluchzen – sagt sie mir, daß unser geliebter Vater tot sei.

Doris liegt krank zu Bett. Da Frau Dr. Feldhaus verreist ist, macht ihr Sanitäter Engert heiße Umschläge und veranlaßt auch einen Motorradfahrer, zum Arzt nach Aglasterhausen zu fahren, doch er bringt nur Medikamente mit. Pfarrer Allinger leiht uns ein Heizkissen. Die Gemeindeschwester Luise aus Asbach wird benachrichtigt und kommt sofort, trotz starkem Glatteis, in mondheller Nacht.

Es geht stark auf Weihnachten zu. Bei Schreiner Huther in Binau habe ich mir Holzabfälle erbettelt und beginne, in Engerts Werkstatt an einer Puppenstube für die Mädchen zu arbeiten. Frau Becker/Witter aus dem Dorf besucht uns und nimmt die schmutzige Wäsche mit. Eines Abends singen junge Mädchen aus dem Dorf vor der Haustür und bringen Plätzchen und Äpfel mit.

Einen Tag vor Heiligabend bringt Schwester Luise ein großes Paket für uns mit. Frau Dr. Feldhaus ist da, untersucht Doris kostenlos und verschreibt Medizin. Herta Büche säubert unsere Wohnung. Mit den noch von Dresden her vorhandenen kleinen Möbeln räumen wir die Puppenstube ein.

Am 1. Feiertag säubert Frl. Backfisch die Stube und nimmt die Wäsche mit. Vom Pfarrer kommt ein Paket. Frau Dr. Feldhaus gibt Doris die zweite Spritze. Dem kleinen Ingolf bringt sie ein großes Holzauto mit. Schuhmacher Stadler bringt auch Plätzchen. Die Mädchen gehen mit Frau Bitz zum Weihnachtsspiel in die Kirche.

Am 2. Feiertag steht Doris für längere Zeit auf, es gibt Rouladen. An beiden Feiertagen herrscht ausgesprochenes Dreckwetter. Bisher haben wir in Bitzes Küche mitgekocht. Nun erhalten wir einen Bezugsschein für einen Kleinherd. Wieder Haushaltslisten zu schreiben. Aber zum Jahresende gedenken wir auch all der lieben Menschen, die uns auf der Flucht beigestanden haben: Seidlers in Bautzen, Trögers in Geising, Grohs in Dresden und Herzbergs, Verwörths, Käthe, Zwillings. Es wird milder. Das Thermometer zeigt neben großem Sturm und Regen Temperaturen von 10 Grad Wärme.

Reinmuths schicken uns Wurstsuppe – sehr begehrt!

So kommt das Ende dieses schicksalhaften Jahres heran. Mit den Wirtsleuten Bitz feiern wir Sylvester. Sie besorgen Apfelmost zu Glühwein, und wir steuern von unserem kleinen Zuckervorrat aus Stendal bei. Betroffen sind wir dann doch, daß Bitz unsere Plätzchen vom gemeinsamen Weihnachtsbaum an seinen Dackel verfüttert. Unsere Kinder hatten sie bis zum Abräumen des Baumes selber essen wollen. Doch wir halten uns zurück. Die Zukunft wird uns lehren, daß der Hund die Hauptperson im Hause ist, um die sich alles dreht.

Das neue Jahr 1946. – Wir leben von der Hand in den Mund und müssen uns immer tüchtig rühren. Immer wieder im Wald Holz sammeln, auf der Suche nach Lebensmitteln zugeteilte Zigaretten werden als Tauschobjekt gesammelt. Gemüse aus Oftersheim. Listen und Bezugsscheine beachten. In Obrigheim lernen wir einen mysteriösen „Oberförster Siebers“ kennen, der sich als „Flüchtlingshelfer“ ausgibt und uns einige Male besucht. Einmal wendet sich auch eine junge Frau in unserer Stube an ihn – Bertl Kozlowski – da wird eine lebenslange Freundschaft daraus. Zähringer repariert mir kostenlos meine Schuhe und schenkt mir eine alte Jacke von sich. Damals bestand ich zur Hauptsache aus Haut und Knochen, sehr abgemagert nach all den Strapazen.

So kommt Sigruns fünfter Geburtstag heran. Es ist ein kalter, aber sehr klarer Sonnentag. Die „gute Mutti“ ist von Haus zu Haus gegangen und hat eßlöffelweise Mehl erbettelt und nun daraus eine Cremetorte, eine Apfeltorte und einen Rosinenkuchen gebacken. Erst viel später erfahren wir, daß sich alle Mörtelsteiner und Asbacher Einwohner zentnerweise mit Mehl und anderen Lebensmitteln eingedeckt hatten, als bei der Kapitulation ein voller Zug im Asbacher Tunnel steckte.

Gegen Monatsende haben wir eine erste größere Auseinandersetzung mit Bitz, deren Quengeleien wir uns nicht immer gefallen lassen können. Er klaut unser Holz! Unsere Miete wird auf monatlich RM 20,- festgelegt. Hans schickt uns von Alversdorf im Brief RM 50,-. Doris ist wieder (vom 28. l. – 13. 2. 46) nach Alversdorf gefahren. Frl. Backfisch hilft uns bei der Hauswirtschaft. Regen und Frost wechseln. Vom Versorgungsamt erhalte ich Rentenbescheid: 103,- monatliche KB-Rente.

Nach Dorisʼ Rückkehr Großreinemachen. Meinen 41. Geburtstag – Doris hat dafür Milch und Äpfel gehamstert – feiern wir mit Lotte Witter, Frau Becker und Bitzes. Dann hoher Schnee und Sturm.

Aus Heidelberg bekommen wir ein Kinderbett. Das Holz wird knapp, und wir frieren. Ende Februar muß ich wegen neuer Prothese zu Firma Habermann nach Frankfurt, übernachte dort in einem Bunker. Ich bemühe mich um Verdienst durch Bastelarbeiten, da eine Anstellung wegen drei Kindern immer erfolglos ist.

Anfang März fängt die 86. Lebensmittel-Zuteilungsperiode an, keine Verbesserung gegenüber der 85. Periode. Zum ersten Mal besucht uns der halb heimatlose Vetter von Doris: Walter Ueltzhöffer, bleibt einige Tage und hilft beim Holzsammeln. Von Reinmuths (Emil) bekamen wir Wurstsuppe, die wird immer auf mehrere Mahlzeiten gestreckt. Dann können wir auch ein Federbett (Hühnerfedern) kaufen. Doris bäckt Fastnachtsküchle. Am 6. März haben wir erstmalig auf unserem erhaltenen Herd wieder selber kochen können. In Binau und Hochhausen suche ich für Bastelzwecke Sperrholzreste zusammen.

Vom 11. – 15. März bin ich über Station in Heidelberg beim Orthopäden in Frankfurt zur Anprobe des Rohbaus einer neuen Prothese. (Das alte Kunstbein trug ich während der monatelangen Flucht, und es paßte nicht mehr.) Übernachtungen bei der Caritas am Ostbahnhof und im Frauenhof. Es gibt markenfrei gutes Essen. Da sind wir in den Nächten mit alten Soldaten-Kameraden zusammen, und es gibt viel Unterhaltung.

Inzwischen richte ich mich in Witters alter Schreinerwerkstatt ein (1974 abgerissen). Erste Bastelarbeiten: Preßblumen in kleinem Holzrahmen unter Glas. Damit versucht Doris erstmalig in Asbach zu tauschen oder zu verkaufen. Karin hat hohes Fieber. Zur Monatsmitte wird der kleine Ingolf von Bitzes Hund gebissen. Wir müssen mit ihm zum Arzt nach Aglasterhausen. Herrliche Frühlingstage mit vielen Schlüsselblumen sind gekommen, doch alle Kinder sind erkältet.

Anfang April hole ich mein neues Kunstbein in Frankfurt ab und übernachte wieder bei der Caritas am Ostbahnhof. Doris hat den „Schulgarten“ gepachtet und Frühkartoffeln gesteckt. Dann verkauft sie – wie später noch oft – selbstgebasteltes Spielzeug in Heidelberg; Osterhasen und später Zwergenschaukeln, Ascher usw. Karfreitag Waldspaziergang mit den Kindern und Ostern Eiersuchen im Grünen hinter der Kirche. Einen Kirschbaumstamm kann ich erwerben zum Sägen und Schnitzen. Käthe Stumpf aus Heidelberg besucht uns. Wir pressen Zuckerrüben aus zu Saft und Brotaufstrich. Dann langer Fragebogen über „Entnazifizierung“. In Heidelberg bei Frau Reiers, Hauptstraße (früher Schokoladengeschäft) für RM 91,- Bastelarbeiten verkauft, davon Gemüse und Salat und Tabakpflanzen gekauft.

Doris kauft in Binau für sechs Zigaretten ein Brot. Unsere Kinder sind selig und können sich mal richtig sattessen. Wir pflanzen 39 Tomatenstöcke. Von Witters bekommen wir einen Hasenstall und kaufen von Tesnow zwei Kaninchen.

Am 3. 6. 46 fahre ich zu Bruder Hans nach Alversdorf, damit er – noch ohne Familie – seinen Geburtstag nicht alleine feiern muß. Dort erwartet mich eine große Freude! Schwägerin Ella mit allen Kindern und Oma sind nachts zuvor mit einem Flüchtlingszug aus der alten Heimat Sorau eingetroffen. Da hat Hans alle Hände voll zu tun. – Welche Fügung auch! Der Flüchtlingszug war langsam, fast unmerklich, über die Zonengrenze gekommen und hat dann gehalten. Die Schwägerin fragte den Zugleiter: „Sind wir schon über der Grenze? Können Sie mir sagen, ob hier in der Nähe Alversdorf liegt?“ – Antwort: „Da gehen Sie nur herunter – die Häuser hier, das ist es!“ Und da der Zug auf offener Strecke länger warten mußte, ging Schwägerin Ella den Bahndamm hinunter aufs Barackenlager zu und fand kurz darauf ihren Mann in der Gemeinschaftsstube schlafend vor. Er war rasch munter und arrangierte es, daß sämtliches Gepäck an Ort und Stelle ausgeladen wurde und die Familie nicht erst ins Lager mußte. Sie bekamen ebenfalls im Barackenlager Alversdorf Wohnung, später sogar eine Baracke allein, die Hans weiter ausbaute und unterkellerte. Jahrelang wohnte dann die Familie hier, bis Hans mit Hilfe der BKS (Braunschweigische Braunkohlenwerke) in der Königsberger Straße 12 in Schöningen ein eigenes Siedlungshaus baute.

So wurde es für alle ein sehr schöner Geburtstag um unseren Hans! Pfingsten – 9. Juni – wieder zu Hause in Mörtelstein, unternahmen wir langen Spaziergang am Neckar bis zur Staustufe Guttenbach. Inzwischen war ich immer wieder in Eschelbronn auf der Suche nach Sperrholzresten und bastelte unentwegt selbst entworfenes Spielzeug, das in Heidelberg verkauft wurde, bei Frau Heimer und in einem Haushaltswarengeschäft. Davon lebten wir. Bretter zu erhalten war sehr schwierig. Jeden Tag sahen wir lange Güterzüge mit großen Maschinenteilen, wohl verpackt in besten Brettern, drüben auf dem Bahndamm vorbeifahren. Da wurden die Werkbänke und Maschinen aus dem Stollen in Obrigheim (aus Berlin ausgelagerte Maschinenfabrik Goldfisch) den Russen ausgeliefert. Als ich endlich ein paar kurze Bretter erwischte, zimmerte ich für die Küche ein kleines Regal und ein Fensterbrett.

Nun gab es immer wieder sehr heftigen Krach mit Bitzes wegen Kleinigkeiten. Sie gebrauchten uns unbekannte, wüste Schimpfworte; unsere Kinder waren erschreckt. Solange wir von unserem geringen Zuckervorrat abgaben war alles gut, doch der war eines Tages zu Ende. Einmal sollte das Gartentor zu sein, damit der „Maxl“ nicht hinauskonnte, dann wieder mußte es offen sein! Bitz schnüffelte mit sauertöpfischer Miene dauernd um uns herum. Die sehr feine Frau Illek (einst großes Hotel in Brünn), die mit ihrer über 90jährigen Mutter bei Proß wohnte und den berüchtigten „Brünner Hungermarsch“ mit letzter Kraft überstanden hatte, nannte Bitz immer „Zwetschgenkrampus“!

Wir machten uns Zeichen an der Wohnungstür, wenn wir fortgingen, um Holz oder Pilze zu suchen. Und siehe da, wir entdeckten, daß Bitz inzwischen mit nachgefeilten Schlüsseln unsere Wohnung durchsucht hatte. Natürlich stellten wir ihn zur Rede. Er verkroch sich – doch dann gab es wüsten Krach! Es spielte sich da ein gewisser Rhythmus ein: Jeden Monat mußte mindestens eine Woche Krach sein, dann näherten sie sich scheinheilig mit kleinen Geschenken wieder unseren Kindern.

Den 32. Geburtstag von Doris feierten wir wieder bei Witters. Durch Pfarrer Allinger erhalte ich vom Evangelischen Hilfswerk einen Anzug und weitere Bezugsscheine. Der beliebte Pfarrer wird versetzt.

Allmählich werden wir vertrauter im Dorf. Trotz unserer Mittellosigkeit werden wir im Dorf als wohlhabend angesehen, da unsere Kinder immer nett und sauber gekleidet sind. Die Mutti macht aus allem etwas, so aus alten Pferdedecken für die Mädchen zwei Wintermäntel.

Ehemalige Soldaten – ohne Familie – sind aus Kriegsgefangenschaft zurück und helfen uns gerne mal – gegen Familienanschluß – Holz zu spalten und zu verstauen, teils oben in der Kammer neben der Küche. Es sind dies Albert Wehner und Adolf Cherkowski, ein Sudentendeutscher, der sich am Neckarufer eine kleine Hütte erbaute. Um diese Zeit kam auch ein Landsmann von ihm, Arno Ringel, nach Mörtelstein, mit Tochter Olga, die ihre kleine Hauswirtschaft in eine ebenfalls selbst erbaute Hütte weiter oben in die Felsen gebaut hatte. Besondere Tragik erfuhr Ringel. Da er lange als vermißt galt und für tot erklärt war, hatte seine Frau seinen besten Freund geheiratet, im Glauben, damit einem Toten einen letzten Freundschaftsdienst zu erweisen.

Ringel und Adolf arbeiteten in einem gepachteten Steinbruch. Ringel war aus der Branche und wurde später durch seine künstlerischen Mauern weitum bekannt. Wir kamen alle in familiäre Verbindung miteinander.

Anfang August sammelte die ganze Familie Ähren auf den abgeernteten Feldern, die gegen Mehl getauscht wurden. Sigrun knabberte vor Hunger mal ein Brot an, das sie vom Bäcker holte. Beim Totengräber Raber war eine Verkaufsstelle für Brot. Da lag die Ware zum Abholen auf der schmutzigen Bodentreppe. Den ganzen Sommer bis zum Spätherbst suchten wir Falläpfel für Dörrobst. Doris bekam Verbindung zu einer Frau Christ aus der Heimat Schwiebus, die jetzt bei ihren Eltern in Rendsburg wohnt. Mit Ingolf fährt sie auf Einladung 10 – 12 Tage nach Holstein, dabei auch nach Schöningen.

Auf einer Fahrt nach Heidelberg lernte ich im Abteil einen Holzbildhauer Jörg aus Waibstadt kennen, der zu einer von mir gefertigten Holzschale nur bemerkte: „Typisch Lazarettarbeit“, und ich solle ihn mal besuchen. Da lernte ich andere Schnitzarbeiten kennen, die mir mehr Spaß machten und auch mehr einbrachten: ovale Holzteller mit Schrift „Unser täglich Brot gib uns heute!“ Gegen Tabakwaren tauschte ich nach und nach einige Hohlmesser und Stechbeitel.

Am 25. August wird der neue Pfarrer Grimm eingeführt. Der September beginnt mit Morgennebeln – heißen Tagen und kühlen Nächten. Walter Ueltzhöffer bringt uns einen Bohnenständer zum Einmachen. Wir pflanzen Endivien und säen Spinat aus. Neue Modelle für Weihnachtsspielzeug werden entworfen. Die Kinder sind abwechselnd artig oder nicht.

Am 20. September geht eine Windhose über Mörtelstein und deckt Bitzes halbes Haus ab. Große Bäume an der Straße werden entwurzelt und bis über die elektrischen Leitungen hinweggeschleudert.

Es gibt viele Bucheckern im Wald, was nur alle paar Jahre mal vorkommt. Die ganze Familie sammelt; einmal habe ich mit den Kindern 6 ¼ Pfund, Doris allein 11 ½ Pfund. Die tauschen wir in der Ölmühle in Neunkirchen gegen Öl ein, denn wir müssen für den Winter vorsorgen.

Irgendwie habe ich schriftliche Verbindung mit einem alten Kompaniekameraden bekommen – Rudi Magdeburg, auch ehemaliger Feldwebel – der jetzt im Krankenhaus Kissingen als „Supervisor“ für die Amerikaner arbeitet. Am 5. Oktober fahre ich nach vielfachem Umsteigen mit Bahn und Bus nach Bad Kissingen. Das Kurhaus, wo Rudi arbeitet, wimmelt von Amerikanern, Soldaten und Girls in Uniform. Sie sitzen in Ledersesseln und strecken die Beine auf die polierten Tische oder rutschen das Treppengeländer herunter. Sie sind aber höflich zu mir in meinem ärmlichen Kleid, verstehen mich aber nicht, wenn ich immer wieder sage: „I wish to speak Mr. Magdeburg.“ Einer fragt den andern. So mache ich mich zu Fuß auf nach Nüdlingen, wo seine Frau mit Tochter Janka wohnt. Er kommt bald und lacht über mein Mißgeschick. Ja, einen Magdeburg kennt keiner, aber ein jeder ruft mich „Rudi“. Der Freund verpflegt mich gut und erzählt amüsant, wie er, in der Küche beschäftigt, die Amis bemogelt. Ich muß laut lachen! Aber das Schönste an diesem Besuch ist, daß Rudi wohl fast alle seine Papiere verloren hat, jedoch mein „Kriegstagebuch“, von dem er eine Abschrift erhielt, hat er behalten und übergibt es mir zu meiner großen Freude. Ich selbst besaß keinerlei Unterlagen mehr.

Walter kommt wieder mal zu Besuch, da trinken wir seinen mitgebrachten Nescafé, ein- oder zweimal ist ein Frl. Jakob dabei.

Ich arbeite den ganzen Oktober und November hindurch an gut gepolsterter Tischkante, oft bis zu 12 Stunden am Tag, an Laubsägearbeiten für den Weihnachtsverkauf: Kleine Eisenbahnen, Puppenstubenmöbel, Gänseschaukeln, Holzhacker, Ascher, Leuchter usw. Oft arbeite ich wegen Bitzes auch bis in die Nacht hinein bei Wuthes im Rathaus. Mit diesem nach Mörtelstein verschlagenen Lehrerehepaar haben wir uns längst angefreundet – eine Freundschaft fürs ganze Leben wird daraus.

Am 1. Dezember ist eine Doppelhochzeit im Dorf: Groß und K. Winterbauer. Unsere beiden hübschen Mädchen sollen Brautjungfern sein. Mutti putzt sie fein heraus! Doch beim Aufgang zur Kirche stürzt Karin in die Pfützen und muß schnellstens nach Hause geholt werden. Doris schafft unermüdlich, fleißig täglich bis in die Nacht hinein, zwischendurch wieder Sirup kochen aus Zuckerrüben. Am 8. 12. ist eine totale Mondfinsternis zu beobachten. Die im November angekündigte Erhöhung der Brotzuteilung von 6 000 g auf 9 500 g wird wieder vertagt wegen Seemannsstreik in USA.

Auch am 14. Dezember 1946 sitzen wir bis tief in die Nacht hinein bei Wuthes – mit Basteln und Anmalen beschäftigt. Doris fühlt, daß es langsam Zeit wird, richtet noch alles her und bespricht es mit mir. Am 15. Dezember fährt sie – mutig wie immer – allein mit dem Auto nach Mosbach. Wir sind alle voller Erwartung; aber recht in Sorge, weil wir keine telefonische Verbindung bekommen. Endlich am folgenden Tag kommt Bescheid aus dem Krankenhaus: Am 15. Dezember um 14.25 Uhr wurde unser kleiner Heiko geboren! Alle sind erlöst, glücklich und voller Freude! Am 18. mache ich den ersten Besuch im Krankenhaus zum kleinen Sohn. Am gleichen Tag erhalten wir noch einen Bezugsschein für den notwendigen neuen Herd.

Unser kleiner Sohn Heiko ist 55 cm lang und wiegt 7 Pfund und 150 g. Er wird am 19. 12. noch im Krankenhaus getauft. Patentante ist die Lehrersfrau Melanie Wuthe.

Vom 20. – 23. kommen bei 15 Grad Kälte Walter Ueltzhöffer und Frl. Jakob.

Wir rüsten zum Empfang. Es ist sehr kalt, der Neckar führt Treibeis. Schließlich kommt Doris in Hochhausen-Haßmersheim mit der Autofähre über den Neckar. Wir feiern das zweite Weihnachtsfest in Mörtelstein. Die Kinder gehen zur „Flüchtlings-Weihnacht“ zu Laibles. Tante Bertl hilft beim Kochen. Wir Eltern schlafen mit je einem Kind zusammen. Doris mit Sigrun im Bett, ich mit Karin im Strohsack-Feldbett, Ingolf im Kinderbett und Heiko im Kinderwagen, der uns seit den Tagen der Flucht noch immer dient.

Heimatvertriebene in Mörtelstein – Nachsatz: Als wir uns 1945 nach monatelangem Umherirren – wie beschrieben – in Mörtelstein einmogelten, waren alle verfügbaren Wohngelegenheiten für Flüchtlinge aus Ungarn vorgemerkt. Sie kamen dann auch Anfang 1946 und brachten, nach wenigen Tagen Bahnfahrt, von zu Hause fast allen Hausrat, ja sogar ihr Brennmaterial mit.

Die ersten Tage lagerten sie bis zur Verteilung in einer großen Scheune, wo heute das Schulhaus steht.

Einer der Hauptsprecher der Ungarndeutschen war Herr Schlegel aus Budapest, der auch bald gute Anstellung fand: Als Treuhänder in einem ehemals nationalsozialistischen Betrieb. Es war bald zu bemerken, daß er häufig unterwegs war und auch einen höheren Lebensstandard hatte als die anderen Heimatvertriebenen. So kam denn auch eines Tages das Ende, wie es damals nicht selten war! Am 16. Februar 1948 wurde wohl auf eine Anzeige hin im 1. Stock des Rathauses – Wohnung neben Wuthes – eine große Razzia unternommen und folgendes beschlagnahmt: 7 Zentner Mehl, 2 große Töpfe voll Fett, 100 Dosen Kondensmilch, 100 Dosen Büchsenfleisch, 5 000 deutsche Zigaretten, 8 Kanister Benzin.

Das Jahr 1947: Wir können bei Stumpf, Aglasterhausen, Inlett und Bettfedern kaufen. Melanie hilft Doris beim Nähen von Kinderanzügen. Am 16. 2. sind wieder 100 ausgesägte Osterhasen fertig. An Fasnacht gehe ich mit Doris zu Laibles, Tanzen mit Holzbein. Für jeden kein Vergnügen! Für die Kinder kaufen wir einen eigenen Schlitten, der gleich eifrig benutzt wird. Doris hat schmerzhaft aufgesprungene Hände, schafft trotzdem mit Schmerzen.

Mitte März kommt eine Nachzahlung von der Angestellten-Rente über RM 1 500,- Dann wird es schnell Frühlingswetter. Doris ist wieder beim Bucheckern Sammeln. Die Gesundheitspflegerin Mampel aus Mosbach besucht uns. Ich habe schon viel Briefwechsel mit wiedergefundenen Freunden.

Ostern ist verregnet, und die Kinder suchen die Ostereier bei Bitzes im Keller. Doris tauscht wieder gesammelte Bucheckern gegen 2 l Öl. Mitte April holt Melanie Wuthe für uns sechs Hühnerküken aus Heidelberg. Am Neckarufer werden Gärten für Flüchtlinge verteilt. Es gibt Gartenarbeit, Kartoffeln werden gesteckt, und es wird gesät. Für die Kinder richte ich später einen Badeplatz am Ufer ein, geschützt und ungefährlich.

Die Gluthitze geht in den August hinein, doch hindert sie uns nicht, mit allen Kindern und Besuch zum Ährenlesen zu gehen. Für 63 Pfund Ähren bzw. Körner bekommen wir nochmals 30 Pfund Mehl. Das sind willkommene Zulagen zu den nie ausreichenden Lebensmittelkarten, denn die Kinder haben immer Hunger.

Einmal schon erlebt: Klein-Ingolf, im Schulgarten, faltet die Hände, und während ihm die Tränen die Backen herunterlaufen, sagt er unentwegt: Am, Am. Er wußte, wenn bei Tisch gebetet war, gab es nach dem Amen zu Essen. So etwas tut Eltern sehr weh, wenn Kinder Hunger haben, und es ist nichts da.

Am 19. April 1947 besucht uns erstmalig – dann noch oft – Heinz Wohlleben, mein früherer Chef. Er arbeitet als Maurer in Mannheim und wohnt mit anderen im Bunker. Der Hunger ist noch groß, glücklich nimmt er Äpfel und Kartoffeln mit.

Am 21. April habe ich meinen Spruchkammer-Bescheid erhalten: Mitläufer! Nachdem wir von Schlegels zwei Stallhasen erhielten, baue ich einen Kaninchenstall. Mit Sigrun und dem Kirchenchor fahre ich zu einem Kirchenkonzert nach Eberbach. Mitte Mai hat Sigrun Angina, der Arzt muß her. Doris hat sich den Fuß verstaucht – sehr schmerzhaft.

Eine fremde Katze säuft wiederholt die Milch weg, die auf dem Fensterbrett steht. Von Vierling hole ich mir ein Fuchseisen, und nachts darauf hören wir die Falle zuschnappen. Mit einer Pfote hängt ein mächtiger, anscheinend verwilderter Kater, der Räuber, mich mit großen Augen anstarrend, fest. Es tut mir leid, aber die für die Kinder bestimmte und rationierte Milch hat mich aufgebracht. Ich schließe die Augen und schlage mit einem Holz auf ihn ein. Da läßt er Fell, stemmt sich mit aller Gewalt los und kullert das Dach hinunter. Er kommt nie wieder! Über diese Lösung bin ich froh.

Fremde ziehen durchs Dorf, erbetteln sich in jedem Haus eine Kartoffel, denn der Hunger ist noch immer groß. Anfang Juni besuchen uns Bruder Hans mit Ella und Hans-Georg und bringen uns vier junge Kaninchen mit – weitere zwei in Binau. Den 41. Geburtstag von Hans feiern wir gemütlich bei uns. Tags darauf gehe ich mit Hans zum Kirstetter Hof nach einem Eichenstamm fragen, den ich sägen lassen will, um Klötze zum Schalenschnitzen zu bekommen. In diesen Tagen erleide ich einen Verlust, der mich lange Zeit sehr schmerzt. Ich hatte die vom Vater ererbte Uhr mit Sprungdeckel (er kaufte sie sich in seiner Gesellenzeit), ich brachte sie über alle Ausplünderungen unserer Flucht, in meiner Prothese versteckt, durch – zum Uhrmacher in Aglasterhausen zur Reparatur gegeben. Bei einem nächtlichen Einbruch – es blieb ewig ungeklärt, ob fingiert oder wirklich geschehen – wurde mit anderen Uhren auch meine Taschenuhr gestohlen. Als Ersatz erhielt ich viel später nach langem Drängen einen Wecker von geringem Wert.

In Binau kaufen wir zwei Kaninchen für RM 10,-, dann reisen Hans, Ella und Hans-Georg wieder ab. Dann werden Feldwege versteigert, wegen Gras von allen Heimatvertriebenen sehr begehrt. Wir erwerben die unseren. Doris fährt nach Heidelberg zur Beerdigung von Tante Sofie Zwilling, einer Cousine ihrer Mutter. Vom evangelischen Hilfswerk (Frl. Borell) erhalten wir Kleidungsstücke. Heinz Wohlleben und Walter Ueltzhöffer kommen wieder zu Besuch. Walter muß noch immer befürchten, in seiner Heimat Schwetzingen inhaftiert zu werden, denn das Denunziantentum blüht noch immer.

Gegen Ende Juni herrscht eine Gluthitze mit 35 Grad im Schatten. An „unserem Badeplatz“ tummeln sich die Kinder, während wir unsere Beete gießen. Einmal zieht die ganze Familie aus, um Erdbeeren zu suchen. Die Ernte ergibt 8 Gläser Marmelade. Weil wir uns Himbeeren suchen, sind uns Bitzes böse.

Am 5. Juli durchläuft eine Schreckensbotschaft das Dorf. Die junge Frau Schreckenberger, bei Bauer Backfisch einquartiert, ist verschwunden. Der Ehemann erzählt Aufregendes und treibt immer wieder zum Suchen an. Das Neckarufer wird abgesucht, am nächsten Tag die Neckarhalde, wo das Ehepaar einen Hanggarten bearbeitet, Da wird eine aus dem Erdreich hängende Hand gesehen, darunter, leicht mit Erde bedeckt, die Leiche der Frau. Der eigene Mann wird unter Mordverdacht festgenommen und trotz allen Leugnens überführt und kommt ins Gefängnis.

Mitte Juli besucht uns Käthe aus Heidelberg wieder. Wir sind tagelang mit Ährenlesen beschäftigt. Für 35 Pfund Ähren tauscht Doris 22 Pfund Mehl. Da wird gebacken und zusammen mit Käthe der 33. Geburtstag von Doris gefeiert. Dann besuchen uns unsere Nichten Ingeborg und Rosemarie aus Schöningen. Einmal fährt Doris mit Ingeborg nach Heidelberg, dann ich mit Rosemarie und Bertl Kozlowsky nach Heidelberg zur Schloßbeleuchtung. Es ist ein großartiges Erlebnis! In der sehr warmen Sommernacht lagern sehr viele Menschen am Philosophenweg auf Bänken und im Gras und schlafen bis es Zeit wird, zum Frühzug zu gehen (nachts fuhr kein Zug).

Dann wird der Neckar abgelassen und mancherlei aufgefunden, was bei Kriegsende hineingeworfen worden ist. Es wird teilweise auch gebaggert. Mit Ingeborg und Rosemarie fahre ich- zum Dank für ihre Hilfe – nach Burg Hirschhorn.

Dann fängt mein Beinstumpf an zu eitern. Karin wird krank, und Heiko, der nun das dritte Zähnchen hat, weint viel beim Zahnen. Doris hat dann auch einen vereiterten Fuß. Doch zwischendurch wird Ingolfs dritter Geburtstag gefeiert.

Am 23. August kehrt Franz Kozlowsky aus Kriegsgefangenschaft in Frankreich zurück. Alle deutschen Soldaten aus Norwegen kommen noch in französische Kriegsgefangenschaft. Justiz der Sieger!

Große Freude am 3. September. Unser alter Schwiebusser Hausbewohner Günther Donath kommt aus Illertissen. Er muß auf dem Korridor vor den Türen schlafen. Bei Witters tauschen wir jungen Hahn gegen kleines Huhn. Immer wieder sammeln wir Fallobst zu Dörrobst. Dafür tauschen wir in Heidelberg mal Geschirr ein. Beim Wirtschaftsamt beantragen wir Radio und Fahrrad.

Bald erreicht uns die Nachricht von Mutter Beuß. Dorisʼ Vater ist eines Morgens mit dem Fahrrad an einem unbeschrankten Bahnübergang vom Zug erfaßt worden, am 3. 9. 47 tödlich verunglückt. Wir sammeln Nüsse, und wie da die Bauern aufpassen! Sigrun erreicht einen Rekord von 950 Stück. Bei Bauer Heinrich Backfisch brennt die große Scheuer nieder.

Anfang Oktober kommen erste Nachtfröste. Wir beeilen uns mit unserer Kartoffelernte im Garten. Der lebhafte kleine Heiko ist Sigrun einmal vom Arm gefallen. Die Platzwunde an der Stirn mußte von Dr. Kaltenmeier sen. geklammert werden. Doch Heiko ist jetzt sehr niedlich, steht schon allein.

Über meine Cousine Kläre in Meißen erhalte ich eine elektrische Laubsäge, Transformator dazu, kann sie aber wenig benutzen, mit der Hand an der Tischkante säge ich schneller. Und nach dem Brotschalen-Schnitzen rollt nun wieder täglich das Anfertigen von Spielzeug usw. für das Weihnachtsgeschäft: Barrenturner, Reiterschaukeln, Herzen mit Fenster. In sonnigen Herbsttagen hacke ich allein einen Ster Holz und verfrachte es für den Winter in die Kammer neben der Küche.

Gegen Ende Oktober wird es sehr kalt mit Schneeschauern. Onkel Heinz besucht uns das zehnte Mal. Und zwischendurch in gleichen monatlichen Intervallen – zu all unseren Sorgen und Mühen – der böse Krach mit Bitzes. Besonders schlimm, daß er einmal (da wir die gleiche Holzhütte hatten) mein frisch gesägtes Holz in großen Klötzen in seinen eigenen Vorrat einbaute. Da habe ich aus gerechtem Zorn mal richtig losgelegt, und er verkroch sich dann tagelang.

Bitzes quälten uns oft so hundsgemein, daß ich mitunter an mich halten mußte, um nicht tätlich zu werden. Nie hatten wir im Leben vorher so niederträchtig schlechte Menschen gefunden – es gar nicht für möglich gehalten, daß es so etwas gibt. Wir hatten Hasen- und Hühnerställe kombiniert vor der Holzhütte stehen. Auch Bitz schaffte sich Hühner an. Im Zaun hatte ich eine Klappe angebracht, durch die die Hühner auf die umliegenden Wiesen konnten. Zunächst fütterten wir unsere Hühner bei geschlossener Klappe. Paßten wir nicht auf, so jagte Bitz unsere Hühner durch die Klappe und ließ seine Hühner an unser Futter. Wenn Doris in den Keller ging, wo wir unser Brett stehen hatten, schlich Bitz vor lauter Mißtrauen immer hinterdrein. Unmöglich, alle Schikanen aufzuzählen. Da wir bei Klosettbenutzung durch seine Küche mußten, sperrte er mitunter die Küchentür ab, und wir mußten die Kinder auf den Eimer setzen und selbst bei Dunkelheit unsere Notdurft im gegenüberliegenden Gebüsch verrichten. Oder er sperrte uns abends – bei Kleinkindern – einfach das Wasser in seiner Küche ab, weil seine Frau das Rauschen nicht vertragen konnte.

Im Dezember fährt Doris mal zu Besuch zu Donaths nach Illertissen und nimmt eine Anzahl Peitschen aus der Peitschenfabrik Aglasterhausen mit zum Tauschen gegen Lebensmittel. Sie verkauft 26 Pfund Bucheckern für RM 15,-. Unseren eisernen – uns von Bitzes „großmütig“ überlassenen Stubenofen, der in Wahrheit früher hier einquartierten Berlinern gehörte – kaufen wir diesen bei einem Besuch für zwei Liter Öl ab. Damals waren Reisen Ost-West mit Ausweis noch ungehindert möglich.

Die ewige Kraftvergeudung im Zank mit Bitz läßt in uns immer wieder – im Gedanken an unseres Vaters Häuser – den Wunsch nach einem Eigenheim aufkommen. Die Kinder sollen wirklich eine neue Heimat bekommen auf eigenem Grund und Boden. Das sog. „alte Schützenhaus“ am Wald interessiert uns. Mit Hilfe des neuen Bürgermeisters Reinmuth können wir für RM 500,- die nur noch aus Balkengerüst bestehende Bude (Seitenwand-Bretter wurden längst abmontiert) kaufen. Noch vor der Währungsreform erhielt der Architekt Hoffarth eine erste Anzahlung von RM 278,30. Von der Lebensversicherung erhielt ich eine Nachzahlung von RM 238,15. Größere Ausgaben waren:

Durch Vermittlung Käthes eine Geige          RM 300,

         Ein Rodelschlitten                                       „       20,-

         Zwei Tafeln Schokolade                              „       50,-

         Für Geburtstag Hans                                   „     100,-

         Für Äpfel von Sigmund und Backfisch        „     100,-

         Für Küchenherd                                         „     122,-

         Für Doris Fahrt zu Donaths                         „       60.-

         Für einen Eichenstamm zum Basteln           „       78,65

         Für einen Mantel für Doris                          „       48,-

         Für Bettfedern bei Stupf                              „       23,70

         Noch 2 Tafeln Schokolade für die Kinder    „        60,-

         Karin Kleid und Ingolf Hose                       „        23.75

         Teddy für Ingolf                                         „        15,50

         Ein Wäschetopf                                          „        12,-

         Ein Leimtopf für Bastelarbeiten (Spitzer)     „        22,-

Das ereignisreiche Jahr 1948. Die unaufhörlichen Auseinandersetzungen und Schikanen von Bitzes erregen uns fast bis zur Weißglut. Die Bitzesbande ist wie eine Höllenbrut!

Vom 12. Januar bis 11. Februar geben wir unseren kleinen Heiko zu Wuthes ins Schul-/Rathaus in Pflege zu seiner Patentante, die ihn liebevoll betreut. Wir amüsieren uns über den Kleinen, wie er – auf dem Bauche liegend – vor dem Einschlafen immer mit dem Kopf ins Kissen haut. Bei Wuthes feiern wir auch Fasnacht in der selbst dekorierten Stube, zusammen mit Tesnows und Kleibers. Letztere stören durch ihr „vornehmes“ Essen die Stimmung. Auch meinen 43. Geburtstag feiern wir bei Wuthes. Dazu hat Doris gebacken: 1 Nußtorte, 1 Apfeltorte und 3 Napfkuchen; dann gibt es auch noch eine Kaffeestunde bei uns.

Bitz spielt wieder ganz verrückt wegen unserer Hühner. Neuer Krach wegen Holzhüttenschlüssel, den er verweigert. So kommt auch ein Flüchtlingsreferent zur Aussprache. Wir sprechen nur noch von einem „Eigenheim“, ehe es hier einen Totschlag gibt! Wir können einfach nicht mehr, da auch die täglichen Sorgen noch bleiben.

Ich bastle jetzt viel Wandhängevasen, deren Gläser mir Jochen Heise aus Berlin schickt. Ein großes Paket von Donaths bringt Freude ins Haus. Im „Seewald“ suche ich mir einen genehmigten wilden Kirschbaum zum Schnitzen aus. In Nordbaden ist Generalstreik.

Nun gehen wir energisch an das Vorhaben „Eigenheim“. Nachdem wir das Balkengerüst des alten Schützenhauses (Kleinkaliberstand) gekauft haben, gilt es nun, einen Bauplatz zu erwerben. Der alte Bauer Riedinger, den ich wegen eines kleinen Grundstücks von 4 Ar aufsuche, kehrt mir den Rücken zu und läßt mich vollkommen ungerührt stehen. Als ich ihm eindringlich unsere Lage schildere, meinte er ablehnend: Ihm ginge es besser, wenn er auch Flüchtling wäre. Hartherzig bis zum Letzten! Ablehnung, weil darauf noch zwei alte Mostbäume stünden. (Heute wohnt hier Friedel.)

Da bietet mir Bertl ein 4,34 Ar Grundstück auf der gegenüberliegenden Straßenseite an. Mit Frau Schneider kann ich damit teilweise einen Tauschvertrag abschließen, damit „Baugelände“ entsteht; breit genug für ein Häuschen, alles notariell beglaubigt. Ich beantrage den Lageplan vom Vermessungsamt; Architekt Hoffarth besichtigt das Gelände. Das Grundstück ist 8 m breit und 47 m lang. Doch dann gibt es wegen mir eine stürmische Gemeinderatssitzung! Es ist ja weit und breit das erste Mal, daß ein Heimatvertriebener bauen will. Gemeinderat Raudenbusch ist gegen mich. Gemeinderat Neumann entscheidet dann zu unseren Gunsten. Huther (Binau) will Fenster und Türen liefern.

Alle Kinder werden im Schulhaus fotografiert – sechs Bilder RM 20,-. Inzwischen legt das schwarze Huhn das erste Ei! Anfang März bekommt der graue Stallhase Junge! Wir beantragen Gutscheine für eiserne Bettstellen und Kochtöpfe. Mein Versuch, bei Mattner in Aglasterhausen eine Festanstellung zu bekommen, ist ergebnislos. Immer wieder – auch bei der Sparkasse: Vier Kinder? Einstellung unmöglich!

Am 23. März unternehme ich mit Tochter Sigrun eine langwierige Reise nach Norddeutschland. Abfahrt bis Heidelberg, dann Übernachtung im Bahnhof beim Roten Kreuz. Zweiter Tag bis Frankfurt, Nacht im Bunker. 8 Uhr morgens ab Frankfurt, an Kassel 16.30 Uhr, 20 Uhr in Northeim, wieder Übernachtung beim Roten Kreuz. Am 25. mit Bus und 3 km Fußmarsch bis Echte/Harz. Freundliche Aufnahme bei Heimatfreund Droge und Knauers. Nachts Ankunft in Alversdorf.

Am Ostermontag, 29. 3., sehen wir dort mit Hans und Ella die Operette „Gräfin Mariza“ in der Sporthalle. Sigrun bleibt bei den Verwandten, und ich fahre früh um 5 Uhr ab und bin um 22 Uhr bei Staars in Lübeck. Georg zeigt mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Abends im Theater: „Ein Glas Wasser“. Weiter fahre ich zu Heimatfreund Conny Krüger nach Husum. Wir machen einen Stadtbummel zu Storms Grab, eine Wanderung am Hafen, am Meer Blick auf die Hallig; es ist stürmisch und regnerisch.

Auf dem Rückweg hole ich Sigrun in Alversdorf ab. Sie ist hinterrücks die Kellertreppe hinuntergefallen; Gehirnerschütterung, ohne daß man achtgab, daß sie anschließend Ruhe hält. Zu Hause fährt Doris sofort mit ihr zum Arzt. Doris hat auch wieder tiefe Risse in den Fingern. Bei mir fängt der Beinstumpf stark an zu eitern.

Am 11. April fährt Sigrun über Alversdorf bis zum 20. 4. nach Berlin. Derweil wasche ich Windeln und bade die Kinder. Ich bekomme auch Saatkartoffeln. Gartenarbeit und immer wieder Basteln, Basteln als Broterwerb.

Am 3. 5. haben wir mit Heinz Wohllebens Hilfe das alte Schützenhaus zerlegt, die Dachziegel gestapelt. 14 Eier bringt Doris zur Brutanstalt nach Heidelberg. Auch unser Radio wird nun angeschlossen. Wir bekommen einen Handwagen. Tomaten- und Tabakpflanzen werden gesetzt. Mit Hilde, Gert, Fritz, Dieter und unseren Kindern feiern wir Karins fünften Geburtstag.

Nachamputation in Schlierbach – vor und nach der Währungsreform.

Schon Ende Januar wurde ich in der Orthopädischen Klinik in Schlierbach wegen notwendiger Amputation untersucht. Am 11. 5. wurde ich wieder hinbestellt. Unterbringung im Saal Medicum – lauter alte Soldatenkameraden. Erst am 19. 5. wurde ich dem Professor vorgestellt und am 21. die Stumpfkorrektur vorgenommen, dazu Nervenreißen; noch ein Stück vom Knochen abgesägt. Der erste Verbandwechsel am 24. 5. war sehr schmerzhaft, nur einmal Morphium bekommen, dazu Nervenreißen. Fäden gezogen zwischen 31. 5. und 4. 6.

Doris mit Kindern und auch Heinz und Rudolf Zwilling besuchen mich. Ich schreibe viele Briefe und beginne – auch nach Tagebuchnotizen – „Das Tagebuch unserer Flucht“ zu schreiben. Alle Ereignisse sind noch frisch im Gedächtnis.

Am 9. kann ich bereits im Garten der Klinik einen ersten Spaziergang unternehmen. Am 12. 6. werde ich wegen Platzmangels aus der Klinik entlassen. Große Freude zu Hause! Am darauffolgenden Sonntag sind wir am Neckar; die Kinder baden bei dem schönen Wetter. An den Bürgermeister richte ich ein erneutes Baugesuch. Auf eine schnelle Gesundung nach der Nachoperation habe ich mich zu früh gefreut; es dauert noch monatelang. Bereits am 15. 6. bin ich wieder in Schlierbach, Wunde eitert, Rivanol-Umschläge.

Dann ist der 1. Juni 1948, der Tag X, von dem schon lange gesprochen wird.

Währungsreform!

Viel Verwirrung und Nervosität überall. Pro Kopf der Bevölkerung gibt es DM 60,-, von denen als erste Rate DM 40,- ausgezahlt werden. Am 24. 6. sperren die Russen in Berlin für die britischen und amerikanischen Sektoren den elektrischen Strom. Im Radio hören wir bangend von west-östlichen Spannungen. Doris besucht mich als Mitfahrerin in einem LKW – es muß gespart werden. Sie bringt Milch, Kuchen, Blumen und Eier mit.

Am 26. 6. werde ich zum zweiten Mal operiert, dabei werden Teile des vereiterten Stumpfes wieder aufgeschnitten – die eiternde Wunde heilt nicht. Am 13. Juli dann 3. Operation mit Evipanspritze. Am 16. 7. erster Verbandswechsel. Da die Wunde nicht heilt, wird am 9. August eine Hautübertragung vom linken Oberschenkel gemacht. So liege ich bei ganz veränderten Verhältnissen nach der Währungsreform hilflos in der Klinik, und Doris hat es sehr schwer, allein fertig zu werden.

Von den ersten DM kaufte sie das so notwendige Fahrrad. Doris und die Kinder gehen Beeren sammeln. Damals war es noch möglich, allein in den Wald zu gehen. Einmal war der Erlös verkaufter Brombeeren DM 36,-. Immer wieder bekomme ich Besuch von daheim.

Mitte Juli steckt das Straßenbauamt unseren Bauplatz ab. Inzwischen habe ich ein Büchlein „Tagebuch unserer Flucht“ vollgeschrieben. Aus geliehenen Büchern studiere ich griechische Geschichte und liege dabei im Liegestuhl in der Sonne.

Im großen Medicum-Saal liegen nur nachamputierte Kameraden, ein rauhes Volk! Jeder ist gespannt, wenn wieder einer aus dem OP zurückkommt, was der in der Narkose noch alles erzählt, z. B. mal ein Unteroffizier, der noch ganz „draußen“ war: „Ganze Batterie Feuer! Ihr Kerle schießt ja in die eigene Infanterie!“ Dann immer großes Gelächter und das dumme Gesicht des Betroffenen, wenn er munter wird. Auch wenn einer vor Schmerzen stöhnt und jammert, machen die anderen Witze, daß alles lacht, und man muß unter Schmerzen mitlachen.

In diesen Tagen richte ich zweimal schriftliche Bewerbung an Gartenbau-Direktor Diepolder in Heidelberg – vergebens! Und einen Brief schreibe ich auch an den alten Seifersdorfer Jugendfreund Willi Hartmann nach Rheda, dessen Anschrift ich von Herrn Droge erhielt, und ahne da noch nicht, wie bedeutungsvoll dieser Brief einmal für mich werden wird.

Endlich, am 16. September ist meine ärztliche Behandlung in Schlierbach abgeschlossen. Doris hat Magenschmerzen. Gleich gibt es wieder großen Krach mit Bitzes.

Schon in Schlierbach hatte mich „Mutti Forell“ aus Überlingen – alte Vertraute einst in Seifersdorf – eingeladen. Gerne nehme ich diese Einladung jetzt an, zumal mir auch Doris zuredet. So fahre ich am 20. September morgens 8 Uhr mit dem ersten Anhalter-Auto los und komme abends bis Sigmaringen, wo ich in einer klosterähnlichen Herberge, nach kostenlosem warmem Abendbrot, übernachte. Am nächsten Mittag bin ich in Überlingen. Die ganze Fahrt habe ich in insgesamt 14 verschiedenen Autos und LKWs zurückgelegt. Hier finde ich bei guten Freunden herzliche Aufnahme und verlebe schöne, sorglose Tage. Ich kann hier in altem Zirkel wieder an einem okkult-medialen Gottesdienst teilnehmen. Schön sind die Herbsttage am Bodensee; das „Seeheim“, eine Pension direkt am Überlinger See gelegen, Kahnfahrt, sogar eine Segelfahrt mitgemacht und schöne Spaziergänge zwischen den Felsen des Stadtgartens.

Tante Lenchen Krüger, die lange Zeit meine Hand festhält, spürt wohl, daß wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Am 28. September versuche ich die Rückfahrt wieder per Anhalter über Salem, Friedrichshafen, Ravensburg, Tübingen und komme abends noch bis Stuttgart, wo ich beim Roten Kreuz Unterkunft und Verpflegung erhalte. Insgesamt hat mich die Fahrt keine DM 5,- gekostet; nur eben die unangenehme Fragerei wegen Mitfahrt und oft längeres Warten.

Anfang Oktober haben wir wieder große Geldsorgen. Der Absatz unserer Spielzeuganfertigung klappt nicht mehr. Mit dem Tag X der Währungsreform ist wie durch Zauberei alles wieder da, was unsichtbar unter dem Ladentisch gehortet war. Die Kinder sind unbekümmert um alles, Hauptsache, sie sind satt. Natürlich ärgern sie uns auch immer mal!

Ich bastle weiter mit Dorisʼ Hilfe beim Bemalen. Bis Mitte November sind 360 kleine Leuchter fertig und etwa 100 Weihnachtssterne mit kleinen Engeln drauf. Einmal noch kann Doris Leuchter verkaufen und bringt DM 59,- mit. Wir haben neue Hoffnung – doch fortan ist jede Bemühung, wo auch immer, vergeblich. Wir haben bis Jahresende wieder schwerste finanzielle Sorgen und sind am Rande der Verzweiflung.

Zwischendurch haben wir mal eigenen Hasenbraten. Zwei Zentner gekaufte Zuckerrüben tauschen wir gegen 20 Pfund Sirup. Ich erhalte drei beantragte orthopädische Schuhe. Sigrun und Heiko müssen zum Zahnarzt. Zum Überdruß – zu allen großen Sorgen – noch weiter Stänkereien von Bitz. Eine Bekannte aus Helmstadt, Frau Stumpf, kommt fünf Tage zum Nähen. Vreni Borell hat für uns noch für DM 34.- Leuchter verkaufen können. Sie sorgt immer mal wieder für Kinderkleidung vom Evangelischen Hilfswerk. Am 21. November beginne ich als Ortsberichterstatter für das „Mosbacher Tageblatt“ zu schreiben (bis 1977). Ich nehme an der VdK-Weihnachtsfeier in Binau teil. Es sind kalte Tage um Weihnachten und Neujahr.

Größere Ausgaben waren 1948 u. a.:

Ein Damen-Fahrrad                 DM 120,-

Küchenschrank                              168,-

Radio Lorenz                                  240,-

Reise nach Lübeck                         215,-

Reise nach Berlin                            133,-

Handwagen                                    145,-

2 eiserne Bettstellen                          90,-

1949

Trotz Sorgen und materieller Not: Alles Sinnen und Trachten gilt dem Eigenheim-Bau!

Der Anfang des neuen Jahres bringt mir eine der schwersten und maßlosesten Enttäuschungen meines Lebens, die mich an den Rand der Verzweiflung führt und tief niederdrückt. Da geht am sonnig-milden 6. Januar im Soldatenrock am Stock, da er, wie er sagt, schwerverwundet gewesen sei, ein Mann durchs Dorf und verkauft wollene Kindermützen – schon ohne Bezugsscheine, obwohl die „Bewirtschaftung“ noch nicht aufgehoben war. Wir waren selbst in verzweifelter wirtschaftlicher Lage, da keinerlei Spielzeug mehr abzusetzen war. Ich komme mit diesem Gustav Werner aus Sinsheim ins Gespräch. Er fordert mich auf, mit ihm zusammen einen „ambulanten Handel“ zu unternehmen. Es hätte Quellen für Textilwaren ohne Bezugsschein.

Am 11. Januar ist er wieder da, besucht uns, schäkert mit den Kindern. Wir teilen unser karges Essen mit ihm und besprechen alles. Er schaut so treu und bieder drein! Als „eisernen Bestand“ hatten wir DM 100,- sauer erspart und zurückgelegt. Die gebe ich ihm zum Einkauf. Einige Tage später ist er nicht am vereinbarten Treffplatz, einer Eisenbahnstation – mehrere Karten bleiben unbeantwortet.

Am 20. Januar fahre ich nach Sinsheim und frage mich durch. Überall betroffene Gesichter. Schließlich kommt es heraus: Werner ist ein großer Schwindler, der auch anderweitig krumme Sachen gemacht hat, u. a. den Leuten Geld für Kohlelieferungen herausgelockt hat. Es ist jung verheiratet, hat ein kleines Kind, aber das erschwindelte Geld mit leichten Mädchen durchgebracht. Später wird er angeklagt und kommt ins Gefängnis. Das erschien mir nach allen Fronterlebnissen ungeheuerlich! Daß ein Soldatenkamerad einen anderen, von dessen schwerster wirtschaftlicher Lage er genaue Kenntnis hatte, so hundsgemein belügen konnte. Ich möchte mein Leben fast aufgeben!

Da kommt das erste Honorar für den Dezember-Artikel vom „Mosbacher Tageblatt“ von DM 10,10. Und gleich darauf, am 21. 1. wieder einmal ein Beweis, daß man auch in verzweifeltster Lage niemals aufgeben soll! Da schickt mir mein alter Sorau-Seifersdorfer Jugendfreund Willi Hartmann bezugsscheinfrei auf seine Rechnung drei Pakete mit Waren seiner Firma Rawe-Wiedenbrück mit 48 Herrenhemden und 40 großen Frauenschürzen. Das war die Antwort auf meinen Brief vom 24. 5. 48, und er schreibt dazu, daß ihn meine Notlage so erschüttert habe. Er selber sei lange mit seinem Chef wegen Parteizugehörigkeit eingesperrt gewesen. Nun werden Bezugsscheine bald wegfallen. Ich kann alles ohne verkaufen. Er sagt mir die Verkaufspreise, und daß ich erst verkaufen soll, und ihm dann den Einkaufspreis überweisen Gleich am Montag, dem 24. Januar, mache ich mich mit einem Koffer voll auf den Weg nach Helmstadt und besuche zuerst die uns bekannte Frau Stumpf. Hausbewohner kommen, und in Windeseile hat es sich herumgesprochen. Die Stube ist voll von Bauersfrauen, die mitunter gleich fünf Schürzen auf einmal kaufen. Bald geht es mit leerem Koffer wieder heimwärts. Großer Jubel und Freude zu Hause! Weiter geht es auch nach Breitenbronn und wieder nach Helmstadt. Die Ware ist alle – mit gutem Verdienst für uns – und bereits am 28. Januar kann ich Willi Hartmann die Rechnung bezahlen. Aus tiefster Not sind wir voll neuer Lebenshoffnung!

Ich melde ein ambulantes Gewerbe an, nehme am 12. 2. an einer Generalversammlung des „Ambulanten Gewerbes“ in Heidelberg, „Schwarzes Schiff“ teil und suche weitere Lieferanten, wie Nidsch und den alten Sorauer Günter Schelzke in Amberg. Am 5. 3. kommen wieder drei Pakete von W. Hartmann. Immer wieder Verkaufstage in den umliegenden Dörfern, dabei mit Prothese und Handkrücken und vollem, schweren Koffer im Rucksack auf dem Rücken. Ein damals in Aglasterhausen wohnender Rechtsanwalt hat sich, wie ich später erfuhr, über meinen Anblick in der alten Soldatenjacke geäußert: „Ich wäre für ihn der erschütterndste Anblick seines Lebens gewesen!“ Doch mich schert keine Vergangenheit; nur das Glück beseelt mich, für meine Familie zu schaffen und verdienen zu können. Und wie treu und tapfer steht allezeit meine Doris neben mir!

Daneben nun die neuen Vorbereitungen für das Haus! Zaunpfähle werden besorgt und gesetzt, Pfosten für Holzhütte gesetzt, planiert und nachdem Raudenbusch die alten Dachziegel vom Wald geholt hat, das Dach gedeckt (Zement muß trocken bleiben). Adolf Cersowski und Wegener helfen. Im März wird es wieder recht kalt. Walter Ueltzhöffer übernimmt eine Bürgschaft von DM 2 000,-. 20 cbm Rheinkies für DM 200,- werden angefahren. Am 29. 3. 1949 beginnen wir mit dem Erdaushub. Andere Heimatvertriebene sagen: „Briesen, Du bist verrückt! Was machst Du mit dem Häuschen, wenn wir wieder zurück gehen?“ (Jahre später sagen dieselben: „Ja, der Briesen, das war ein schlauer Kerl!“)

Beim Erdaushub für unser kleines Haus helfen noch Noob, Stahlecker und andere, aber nur gegen Bezahlung. An der Böschung bauen wir zur Befestigung Faschinen. Anfang April wird auch in Mörtelstein die „Idad“ (Interessengemeinschaft der ausgesiedelten Deutschen) gegründet.

Der Neckar wird völlig abgelassen. Wenn man nach Binau will, muß man erst tief hinuntersteigen, dann kurz mit dem Kahn fahren und wieder steil hinauf.

Vom 7. – 11. 4. besucht uns Georg Staar mit Auto. Unsere Hühner legen gut! April – Ostern – mit Ostereiersuchen der Kinder, erst im Garten, dann oben am Waldrand, wo in der Baumpflanzung eine kleine offene Hütte steht, in die ich von außen schnell eine Handvoll Ostereier werfe, ehe die Kinder heran sind. Fortan heißt sie nur noch die „Osterhasen-Hütte“. Es sind sonnig-heiße Tage, aber überall Arbeitslosigkeit und schlechter Geschäftsgang.

Unendlich viele – wochen- und monatelange – Laufereien wegen Baukrediten über Lakra; Baugenehmigung bei Notar Ulmer, zwei Kaufverträge und einen Tauschvertrag abgeschlossen. Laufen um Maschendraht, Handwerker (Dachdecker, Installation), Rücksprachen mit Architekt Hoffarth und Bauunternehmen, Preisbehörde, Bauamt, Finanzamt, Landwirtschaftsamt usw. usw. Steine vom Waldrand geholt, Hypotheken-Eintragung. Dazwischen neue Pakete von W. Hartmann und Verkauf mit wechselvollem Erfolg. Treppauf, Treppab mit weiten Laufereien, Koffer im Rucksack, schwere Handtaschen an den Krücken. Ich entsinne mich, wie ich einmal zerschlagen von An- und Rückmarsch mit Gepäck aus Guttenbach zurückkomme – glühendheißer Tag, und ich klebe vor Schweißfliegen. Noob und Stahlecker im Schatten am Neckar und rufen mir im Vorbeigehen zu: „Briesen, Dir gehtʼs gut!“ Stahlecker, aus dem Banat, ist gelernter und selbständig gewesener Tischler, jung, hat hier Frau und zwei Kinder, sagt: „Wenn man mir nicht eine fertig eingerichtete Werkstatt gibt, wie ich sie zu Hause hatte, fange ich gar nicht erst an zu arbeiten.“ An einigen Volksfesten in Obrigheim, Aglasterhausen und Binau machen Doris und ich einen Süßwarenstand auf, der uns, vom Großhandel bezogen, wieder ein wenig Geld einbringt. Beim Sportfest in Neckarelz haben wir Luftballons verkauft.

Haupterwerb bleibt unser ambulanter Handel, den wir durch neue Bezugsquellen erweitern. Schon vom 5. – 7. Mai unternehme ich – alles per Anhalter – eine 300 km lange Fahrt nach Stuttgart, Ulm, Esslingen und Salach zur Wollfabrik und zum Textil-Großhandel. Bezugsscheine sind weggefallen. Im August fahre ich wieder zum Einkauf, heiße Julitage – Trinkwasserversorgung gefährdet. Wir müssen unseren Bedarf unten aus dem Dorf in Wassereimern holen.

Einmal passiert uns bei Bitzes ein großes Mißgeschick, bei dem aber der erwartete und eigentlich berechtigt gewesene Krach ausbleibt. Da Trinkwasser in unserer Küche ohne Wasserstein nur spärlich läuft oder ganz fortbleibt, muß wohl der Wasserhahn nicht zugedreht gewesen sein. Nachts hören wir es rauschen – gleich danach großes Geschrei im Haus! Voller Schreck – aus tiefem Schlaf geweckt – sehen wir, daß die Küche völlig überschwemmt ist. Unten tropft es durch die Decke in Bitzes Küche. Unvergessen der Anblick: Bitz im Hemd und mit Regenschirm mitten in der Küche! Wir schöpfen Wasser, arbeiten die Nacht durch und versprechen, den Schaden zu ersetzen. Bitz ist friedlich – verwunderlich.

Als wir längst die Reparatur bezahlt haben, erfahren wir: Bitz hätte die Küche sowieso bald streichen lassen müssen. Das Geld für die Reparatur bekam er von der Versicherung und von uns! Also ein gutes Geschäft für ihn!

Inzwischen gehen auf dem Grundstück die Arbeiten weiter. Nach Erdaushub wird die Wasserleitung gelegt und Material herangefahren. Beim Hohlblöcke Abladen helfen fleißig Tante Bertl und Wuthes, die sich schon in diesen Tagen als getreue Freunde erweisen. Nach langer Trockenheit endlich Regen!

Am 9. August Baubeginn, ein großer Augenblick! Die Maurerarbeiten führt Hoffarth sen. Aus. Am 20. 8. werden die betonierten Kellerwände entschalt, am 22. 8. Hohlblöcke entladen, 27. 8. Abortgrube ausgeschachtet, 30. 8. Kellerdecke fertig, am 6. 9. erstes Stockwerk hoch gemauert. Am 9. September kommt Scheible mit den Zimmerleuten zum Aufschlagen des Dachstuhls. Am 10. September ist unser Richtfest – ein schöner Tag auf dem Neubau mit allen Bauleuten. Wir hatten rechtzeitig von unseren Lebensmittelkarten gespart und konnten unsere Gäste mit Bier, Kartoffelsalat und Würstchen unter den offenen Dachbalken bewirten; dazwischen wurde auch gesungen! Viele Jahre später sagte uns der inzwischen selbständige Brandhuber, damals noch Lehrling, das sei das schönste Richtfest gewesen, das er je mitgemacht hätte. Ebenso äußerte sich noch 1977 ein Zimmermann.

Mehrfach bemühte ich mich um eine Festanstellung beim Landrats- oder Ausgleichsamt, aber immer vergeblich.

Hoffarth legt beim Bauen immer wieder größere Pausen ein, wenn Teilzahlungen unseres bewilligten Kredites nicht rechtzeitig eintreffen. Da sind wir in steter Sorge, ob der Bau bis Jahresende fertig wird. Immer wieder Laufereien zu den Ämtern, und unentwegt unterwegs als ambulanter Handelsverkäufer.

Regenwetter behindert den Bau – aber endlich am 22. 9. wird das Dach gedeckt. Endlich kommen auch die Maurer wieder. Der Dachgiebel wird eingespeist, die Abortgrube ist fertig. Installateur Dachdecker, Elektriker Schäfer, Aglasterhausen, Fenster an Huter und Kronmüller vergeben. Am 24. 10. beginnen die Gipser. Vier cbm Schlacke für Fußboden. Am 23. 10. kommt die zweite Baurate von DM 1 300,-. Die Kinder tummeln sich am Bauplatz. Heiko stürzt Bitzes Treppe hinunter und muß geklammert werden. Sigrun liegt fest mit Scharlach, später folgt Karin mit Scharlach, Ingolf mit Erbrechen und Heiko mit Mittelohrentzündung. Über allem die stets geplagte Mutti! Zur Kerwe in Mörtelstein halten wir wieder unseren Süßwarenstand. Abends zur Kerwe zu Senk. Durch Zwischenkredit von der Sparkasse können wir Baurechnungen bezahlen. Anfang November setzt Frostwetter ein.

Am 12. November muß ich Doris mit Lungenentzündung und Hirnhautentzündung ins Krankenhaus bringen. Später muß sie noch in die Ohrenklinik ins Johannisstift. Am 25. November verschlechtert sich Dorisʼ Zustand sehr.

Inzwischen legt Feil, Obrigheim, den Fußboden, Scheible fertigt Haus- und Kellertür. Ich versuche, bei Walter in Schwetzingen die Buchführung einzurichten. Seine Lastwagen mit Fahrten für Bassermann sind angelaufen.

Auch bei Sturm und Regen bin ich als Verkäufer unterwegs. Große Freude! Am 10. Dezember wird unsere Mutti aus dem Krankenhaus entlassen! Sie ist noch sehr schwach, aber Bertl hilft viel. Die Hausbeleuchtung wird fertig. Mitte Dezember viel Schnee und Glatteis, doch bin ich bis 21. 12. mit Ware unterwegs.

Und dann kommt der Heiligabend im Eigenheim! Das Wasser läuft noch an den Wänden herunter, die Sitzgelegenheiten sind primitiv. Nachmittags waren die Kinder zum, „Hirtenspiel“ unter Friedrich Raber in der Kirche.

                   Wir sind unbeschreiblich glücklich!

Die Kinder schlafen schon längst auf ihren Strohsäcken, doch wir können vor Freude und Glück noch lange keine Ruhe finden.

Nach Jahren der Sorge – mit schönem Jahresende 1949 – beginnen nun erst recht die Jahre des langsamen und steten Wiederaufbaus.

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